BVerwG Beschluss v. - 2 WNB 1/22

Erfolgreiche Verfahrensrüge bei Entscheidung durch unzuständiges Gericht

Leitsatz

Der prozessrechtliche Grundsatz der Meistbegünstigung findet bei einer Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung Anwendung, wenn ein Truppendienstgericht anstelle der Abhilfe- eine Endentscheidung trifft.

Gesetze: § 22a Abs 2 Nr 3 WBO, § 22b Abs 2 S 1 WBO, § 20 WDO 2002, § 42 Nr 5 WDO 2002, § 114 Abs 1 WDO 2002, § 114 Abs 3 WDO 2002

Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 9 BLd 01/21 und S 9 RL 01/22 Beschluss

Tatbestand

1Der frühere Soldat beantragt die Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen eines Verfahrensfehlers und die Zurückverweisung an das Truppendienstgericht.

21. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft führte ab Mitte März 2021 Vorermittlungen gegen den Soldaten wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung und des Betrugs zum Nachteil des Dienstherrn. Auf Antrag des Disziplinarvorgesetzten ordnete das Truppendienstgericht mit Beschluss vom die Durchsuchung des Soldaten, seiner persönlichen Sachen, seines Fahrzeugs, seines Spindes einschließlich des Wertfachs, seiner elektronischen Datenträger, EDV-Anlagen und Mobilfunktelefone sowie der davon räumlich getrennten Speichermedien, soweit auf sie von den Mobilfunktelefonen aus zugegriffen werden kann, an. Der Soldat sei hinreichend verdächtig, ohne Nebentätigkeitsgenehmigung ein Umzugsunternehmen betrieben und vom Bund aufgrund unrichtiger Abrechnungen Vergütungen für Umzüge ohne rechtlichen Grund erhalten zu haben. Die Durchsuchung diene dem Auffinden von Beweismitteln über die Anbahnung, Durchführung und Abrechnung der mutmaßlich fingierten Umzüge. Die Durchsuchung durch den Disziplinarvorgesetzten fand am statt, wobei ein Handy "iPhone 12 mini" und eine Visitenkarte des Umzugsunternehmens beim Soldaten sichergestellt wurden.

32. Die am eingegangene Beschwerde des Soldaten richtet sich gegen den Beschluss des Truppendienstgerichts und wird damit begründet, dass ein hinreichender Tatverdacht zu keinem Zeitpunkt bestanden habe. Außerdem sei die Durchsuchung durch den Disziplinarvorgesetzten unverhältnismäßig gewesen. Bereits bei Antragstellung sei bekannt gewesen, dass die Strafermittlungsbehörden beim Soldaten eine Durchsuchung durchführen würden. Mit Beschluss vom wies das Truppendienstgericht die Beschwerde als unbegründet zurück, weil ein hinreichender Tatverdacht bestanden habe. Die gleichzeitigen und koordinierten Durchsuchungen des Disziplinarvorgesetzten und der Strafermittlungsbehörden seien nicht unverhältnismäßig gewesen. Das Truppendienstgericht hat die Rechtsbeschwerde gegen seinen am zugestellten Beschluss nicht zugelassen und den früheren Soldaten belehrt, dass er dagegen Beschwerde erheben könne.

43. Mit der am eingegangenen und am begründeten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der frühere Soldat, dass das Truppendienstgericht für die Entscheidung über die Beschwerde sachlich nicht zuständig gewesen sei. Über Beschwerden gegen richterliche Durchsuchungsbeschlüsse habe nach § 114 Abs. 1 Satz 1 WDO das Bundesverwaltungsgericht zu entscheiden. Es liege ein Entzug des gesetzlichen Richters vor, der einen absoluten Revisionsgrund bilde.

54. Das Truppendienstgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und ausgeführt, dass bei Durchsuchungen des Disziplinarvorgesetzten nach § 42 Nr. 5 WDO das Truppendienstgericht zuständig sei. Die Durchsuchung sei unter dem Briefkopf des Disziplinarvorgesetzten beantragt und in seinem Auftrag durchgeführt worden.

65. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt teilt die Rechtsauffassung des früheren Soldaten, dass für die Entscheidung über die Beschwerde das Bundesverwaltungsgericht zuständig gewesen wäre.

Gründe

7Die Beschwerde des früheren Soldaten gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde in dem Beschluss des Truppendienstgerichts Süd vom ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nach § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 133 Abs. 6 VwGO.

81. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist fristgerecht gemäß § 22b Abs. 2 Satz 1 WBO binnen eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Beschlusses eingelegt und innerhalb eines weiteren Monats ordnungsgemäß begründet worden. Sie ist ungeachtet des Umstandes statthaft, dass das Truppendienstgericht - wie unten näher ausgeführt wird - zu der getroffenen Beschwerdeentscheidung nicht befugt gewesen ist und dass infolgedessen Unklarheit über das dagegen eröffnete Rechtsmittel besteht. Denn nach dem prozessrechtlichen Grundsatz der Meistbegünstigung hat bei solchen "inkorrekten" Entscheidungen der Rechtsmittelführer die Wahl, welches von mehreren denkbaren Rechtsmitteln er ergreift (vgl. 8 C 375.63 - BVerwGE 18, 193 <195> und vom - 9 C 1.10 - BVerwGE 139, 296 Rn. 11 sowie - BGHZ 152, 213 <216>). Er kann sowohl das objektiv richtige, als auch das falsche, aber der äußerlichen Entscheidungsform der Vorinstanz entsprechende Rechtsmittel einlegen. Der allgemein anerkannte Grundsatz der Meistbegünstigung wurzelt in der Überlegung, dass Fehler des Gerichts nicht zulasten der Partei gehen dürfen; insbesondere darf ihnen nicht durch eine falsche Behandlung der Sache durch ein Gericht der Instanzenzug abgeschnitten werden ( 3 C 26.89 - BVerwGE 89, 27 <29>). Nach diesen Grundsätzen durfte der frühere Soldat entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung des Truppendienstgerichts Nichtzulassungsbeschwerde gegen dessen Entscheidung erheben.

92. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet, weil die Entscheidung des Truppendienstgerichts auf einem Verfahrensfehler im Sinne des § 22a Abs. 2 Nr. 3 WBO beruht.

10a) Der frühere Soldat beanstandet zu Recht, dass das Truppendienstgericht sachlich nicht für eine abschließende Entscheidung über seine Beschwerde zuständig gewesen ist. Sein Verteidiger hat im Schreiben vom ausdrücklich gegen den richterlichen Durchsuchungsbeschluss vom Beschwerde eingelegt, nicht gegen eine Maßnahme des Disziplinarvorgesetzten. Dementsprechend handelt es sich nicht - wie das Truppendienstgericht annimmt - um eine Beschwerde nach § 42 Nr. 5 WDO. Diese Norm eröffnet keine Beschwerdemöglichkeit gegen richterliche Anordnungen, sondern nur gegen sonstige - vollzogene oder in Vollzug befindliche - Maßnahmen nach § 20 WDO seitens des Disziplinarvorgesetzten, der Wehrdisziplinaranwaltschaft oder sonstiger beteiligter Ermittlungsbehörden ( 2 WDB 6.22 - NVwZ 2022, 1733 Rn. 18). Dass der Disziplinarvorgesetzte den richterlichen Durchsuchungsbeschluss beantragt und später daraus vollstreckt hat, ändert nichts daran, dass die Durchsuchungsanordnung eine richterliche Entscheidung des Truppendienstgerichts ist, die nicht nach § 42 Nr. 5 WDO von ihm selbst abschließend überprüft werden kann.

11Vielmehr richtet sich die Beschwerde gegen richterliche Durchsuchungsanordnungen nach § 114 Abs. 1 WDO. Nach dieser Vorschrift ist gegen Beschlüsse des Truppendienstgerichts und gegen richterliche Verfügungen die Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht eröffnet; das betrifft - wie § 114 Abs. 1 Satz 2 WDO klarstellt - insbesondere Beschlagnahme- oder Durchsuchungsentscheidungen. § 114 WDO gilt nach seiner systematischen Stellung in der Wehrdisziplinarordnung auch für richterliche Beschlüsse, die - wie hier - in einem von der Wehrdisziplinaranwaltschaft geführten Vorermittlungsverfahren (§ 92 WDO) ergangen sind (vgl. 2 WDB 12.21 - NVwZ 2022, 1728 Rn. 16 m. w. N.). Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat am die Vorermittlungen aufgenommen und die unterschiedlichen Ermittlungen der Feldjäger, des Disziplinarvorgesetzten und der Strafverfolgungsbehörden koordiniert. Dass der Disziplinarvorgesetzte in Absprache mit dem Wehrdisziplinaranwalt die Durchsuchung beim Truppendienstgericht beantragt hat, ändert nichts daran, dass wegen des Verdachts des Betruges und der Steuerhinterziehung Vorermittlungen für ein gerichtliches Disziplinarverfahren geführt worden sind. Da somit nach § 114 Abs. 1 WDO das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung über die Beschwerde gegen die richterliche Durchsuchungsanordnung zuständig gewesen ist, hat das Truppendienstgericht seine Zuständigkeit verfahrensfehlerhaft angenommen.

12b) Auf diesem Verfahrensfehler beruht die Entscheidung des Truppendienstgerichts. Bei richtiger Beurteilung der prozessrechtlichen Zuständigkeiten hätte der Vorsitzende der Truppendienstkammer lediglich eine Abhilfeprüfung nach § 114 Abs. 3 Satz 1 WDO vornehmen und gegebenenfalls einen Abhilfebeschluss der Kammer veranlassen können. Andernfalls hätte er die Sache nach § 114 Abs. 3 Satz 2 WDO dem Bundesverwaltungsgericht zur Endentscheidung vorlegen müssen. Für eine abschließende Sachentscheidung des Truppendienstgerichts bestand kein Raum, sodass sich der Beschluss des Truppendienstgerichts vom auch nicht im Sinne des § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 144 Abs. 4 VwGO aus anderen Gründen als richtig erweist. Da somit bereits ein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler vorliegt, kommt es nicht darauf an, ob zusätzlich - wie der frühere Soldat annimmt - ein Entzug des gesetzlichen Richters und damit ein absoluter Verfahrensfehler im Sinne des § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 138 Nr. 1 VwGO vorliegt.

133. Der Senat macht von der nach § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i. V. m. § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, bei Verfahrensfehlern den Rechtsstreit unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung an das erstinstanzlich zuständige Truppendienstgericht zurückzuverweisen (BVerwG, Beschlüsse vom - 1 WNB 2.18 - Buchholz 450.1 § 23a WBO Nr. 6 Rn. 8 m. w. N. und vom - 1 WNB 4.22 - juris Rn. 4 m. w. N.). Der Vorsitzende der Truppendienstkammer wird die Abhilfeprüfung nach § 114 Abs. 3 Satz 1 WDO im Lichte der neueren Rechtsprechung des 2. Wehrdienstsenats zum Durchsuchungsrecht nachholen müssen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 WDB 12.21 - NVwZ 2022, 1728, vom - 2 WDB 11.21 - juris und vom - 2 WDB 6.22 - NVwZ 2022, 1733).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2022:091222B2WNB1.22.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-34876