BFH Urteil v. - II R 63/98 BStBl 2001 II S. 58

Wahrung der Festsetzungsfrist durch rechtzeitig abgesandten Bescheid setzt voraus, dass der Bescheid unter einer Anschrift versandt wurde, die das Finanzamt nach dem aktuellen Inhalt der Steuerakten als zutreffend ansehen durfte

Leitsatz

Wird § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 dahin ausgelegt, dass die Festsetzungsfrist unabhängig davon gewahrt sei, ob der rechtzeitig die zuständige Behörde verlassende Bescheid dem Adressaten zugeht, muss der Bescheid unter einer Anschrift versandt worden sein, die das FA nach dem Inhalt der Steuerakten als zutreffend ansehen konnte. Liegt der letzte Gebrauch einer aus den Steuerakten hervorgehenden Anschrift mehr als zehn Jahre zurück, ist dies nicht der Fall.

Gesetze: AO 1977 § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1

Instanzenzug: Hessisches FG (EFG 1999, 153) (Verfahrensverlauf), ,

Tatbestand

I.

Mit Bescheid vom , den der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) in getrennten Ausfertigungen beiden damaligen Gesellschaftern der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), einer GbR, bekannt gab, setzte er die Grunderwerbsteuer für einen 1981 erfolgten Grundstückserwerb aus einer Zwangsversteigerung gegen die Klägerin als Meistbietende fest. Einspruch und Klage gegen diesen Bescheid blieben erfolglos. Das klageabweisende Urteil wurde 1992 rechtskräftig. Die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides war während des Finanzrechtsstreits ausgesetzt.

Nach zwei vergeblichen Versuchen im Januar 1993, gegen die Klägerin unter der im Rubrum des rechtskräftigen Urteils verwendeten Anschrift Aussetzungszinsen in Höhe von 306 586 DM festzusetzen - die Bescheide kamen als unzustellbar zurück -, erließ das FA erneut einen Zinsbescheid gegen die Klägerin, den es am in getrennten Ausfertigungen gerichtet an die beiden Gesellschafter unter deren im Zuschlagsbeschluss 1981 verwendeten Adressen zur Post gab. Zu diesem Zeitpunkt war einer der beiden Gesellschafter bereits verstorben. Die dem anderen Gesellschafter übersandte Ausfertigung kam mit einem am angebrachten Vermerk ,,unbekannt verzogen'' zurück.

Nach Anfrage beim Einwohnermeldeamt übersandte das FA dem überlebenden Gesellschafter der mit dem Erben des verstorbenen Gesellschafters fortgesetzten Klägerin am unter der neuen Adresse noch einmal einen an diesen als Bekanntgabeempfänger gerichteten Zinsbescheid. Einspruch und Klage gegen diesen Bescheid, mit dem die Klägerin Festsetzungsverjährung geltend gemacht hatte, blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 153 veröffentlicht ist, war der Ansicht, mit der Absendung des Zinsbescheides am an den überlebenden Gesellschafter sei die einjährige Festsetzungsfrist des § 239 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gewahrt worden. Dies ergebe sich aus § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977. Danach sei nicht erforderlich, dass der Bescheid auf dem eingeschlagenen Weg wirksam werde; es genüge, dass das FA alle Voraussetzungen dafür erfüllt habe, dass der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können. Die Steuerakten hätten keinen Hinweis auf eine Änderung der Privatadressen der Gesellschafter enthalten: Die Bekanntgabe gegenüber einem geschäftsführenden Gesellschafter reiche aus.

Während des Klageverfahrens erging am ein geänderter Zinsbescheid, mit dem die Aussetzungszinsen auf 286 482 DM herabgesetzt wurden und der gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Verfahrens geworden ist.

Mit der Revision rügt die Klägerin fehlerhafte Anwendung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977. Sie trägt vor, es könne auf sich beruhen, ob nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 der rechtzeitig abgesandte Bescheid nach Fristablauf tatsächlich zugegangen sein müsse, um die Festsetzungsfrist zu wahren. Selbst wenn dies nicht erforderlich sei, sei im Streitfall Festsetzungsverjährung eingetreten. Denn der im Dezember 1993 abgesandte, aber nicht zugegangene Bescheid habe wegen fehlerhafter Adressierung auch nach dem Inhalt der Steuerakten nicht wirksam werden können. Daher sei der Bescheid vom erst nach Fristablauf ergangen und demzufolge rechtswidrig.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung sowie den Zinsbescheid vom und den vorausgegangenen Bescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

II.

Die Revision ist begründet.

Der am abgesandte Zinsbescheid ist wegen zuvor eingetretener Festsetzungsverjährung rechtswidrig. Der am an den überlebenden Gesellschafter abgesandte, aber nicht zugegangene Zinsbescheid konnte die Festsetzungsfrist jedenfalls deshalb nicht wahren, weil das FA nicht alle Voraussetzungen eingehalten hatte, die für den Erlass eines wirksamen Bescheides vorgeschrieben sind. Der Bescheid war fehlerhaft adressiert, ohne dass die verwendete Adresse nach den Steuerakten als aktuelle Anschrift des Bekanntgabeempfängers angesehen werden konnte. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, waren die Vorentscheidung und die Zinsfestsetzung aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Auf die Frage, ob der rechtzeitig abgesandte Bescheid zugegangen sein muss, kommt es nicht an.

1. Gemäß § 239 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sind auf Zinsen die für Steuerbescheide geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden. Dazu gehören auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung. Allerdings enthält § 239 AO 1977 in Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 insofern Sonderregelungen, als die Festsetzungsfrist stets nur ein Jahr beträgt und bei Aussetzungszinsen mit Ablauf des Jahres beginnt, in dem ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage endgültig erfolglos geblieben ist. Für den Ablauf der Frist gilt dagegen die Regelung für Steuerbescheide in § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 entsprechend, wonach die Frist gewahrt ist, wenn der Bescheid vor ihrem Ablauf den Bereich der zuständigen Finanzbehörde verlassen hat.

a) In mehreren Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) wird § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 dahin ausgelegt, dass die Festsetzungsfrist unabhängig davon gewahrt sei, ob der rechtzeitig die zuständige Behörde verlassende Bescheid wirksam und insbesondere demjenigen, für den er bestimmt ist, bekannt gegeben wird (so , BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518; vom IV R 64/96, BFHE 186, 94, BStBl II 1998, 556, sowie vom V R 24/97, BFH/NV 1999, 281). Ob dem zu folgen ist, kann im Streitfall auf sich beruhen. Verlangt wird nämlich bei dieser Auslegung, dass die zuständige Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlass eines wirksamen Steuerbescheides vorgeschrieben sind. Dazu genüge, dass der Bescheid nach dem Inhalt der Steuerakten hätte wirksam werden können; hieran fehlt es im Streitfall.

b) Ein allen inhaltlichen Anforderungen genügender Bescheid wird gemäß § 124 Abs. 1 AO 1977 mit der Bekanntgabe gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist, wirksam, wobei für die Bekanntgabe gegenüber einer nicht rechtsfähigen Personenvereinigung gemäß § 122 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 die Regelung in § 34 Abs. 2 des Gesetzes entsprechend anwendbar ist. Demnach konnte das FA zwar die Wirksamkeit des Zinsbescheides gegenüber der Klägerin durch eine Bekanntgabe an den überlebenden Gesellschafter herbeiführen (vgl. , BFHE 179, 211, BStBl II 1996, 256); es war dann aber gehalten, den Bescheid unter einer Adresse zu versenden, die es nach dem Inhalt der Steuerakten als für den Gesellschafter (noch) zutreffend ansehen konnte (vgl. , BFH/NV 1995, 943, sowie vom II R 70/94, BFHE 181, 274, BStBl II 1997, 11). Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt.

c) Die verwendete, aber nicht mehr zutreffende Anschrift hat das FA dem damals mehr als 12 Jahre zurückliegenden Zuschlagsbeschluss entnommen. Ihr letzter Gebrauch lag nach den Steuerakten mehr als 10 Jahre zurück. Angesichts einer solch langen Zeitspanne stellte die Absendung des Zinsbescheides mit dieser Adresse lediglich einen (gescheiterten) Bekanntgabeversuch auf gut Glück dar. Die Anwendung des § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 auf derartige Bekanntgabeversuche wäre mit dem Sinn und Zweck, der der Regelung nach dem Verständnis der oben unter 1. a) zitierten Entscheidungen des BFH zugrunde liegt und wonach die Wahrung der Festsetzungsfrist nicht von Zufälligkeiten des Bekanntgabevorgangs abhängen solle, auf die das FA im Allgemeinen keinen Einfluss hat (so BFH in BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518), nicht vereinbar. Der Grad der Wahrscheinlichkeit, dass die in den Akten befindliche Adresse eines Bekanntgabeempfängers noch zutreffend ist, nimmt mit zunehmendem Alter des letztmalig erfolgreichen Gebrauchs dieser Adresse ab und erreicht schließlich ein Niveau, bei dem nur noch eine mehr oder weniger vage Hoffnung darauf besteht, die Adresse werde noch zutreffen. Greift die Behörde - wie im Streitfall das FA - gleichwohl auf eine derartige Adresse zurück, geht es nicht darum, die Fristwahrung von Zufälligkeiten bei der Bekanntgabe unabhängig zu machen, sondern umgekehrt darum, die Fristwahrung durch eine probeweise Adressierung herbeizuführen, und zwar unabhängig davon, ob die damit verbundenen Hoffnungen sich verwirklichen oder sich als trügerisch erweisen. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben.

2. Die Sache ist spruchreif. Der Zinsanspruch des FA ist wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung erloschen (§ 3 Abs. 3, § 37 Abs. 1, § 47 AO 1977). Die gleichwohl ergangenen Zinsbescheide waren daher rechtswidrig (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) und aufzuheben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:


Fundstelle(n):
BStBl 2001 II Seite 58
BB 2001 S. 34 Nr. 1
BFH/NV 2001 S. 221 Nr. 2
BFHE S. 25 Nr. 193
DStRE 2001 S. 165 Nr. 3
BAAAA-88980