BFH Urteil v. - IV R 63/98 BStBl 2001 II S. 329

Das Finanzamt kann nicht die Reihenfolge der Tilgung bestimmen, wenn der Duldungsverpflichtete (§ 191 Abs. 1 AO) freiwillig zahlt

Leitsatz

Zahlungen eines Duldungsverpflichteten (§ 191 Abs. 1 AO 1977) sind nicht notwendigerweise im Verwaltungswege erzwungen. Zahlt er freiwillig, so kann das FA nicht die Reihenfolge der Tilgung bestimmen.

Gesetze: AO 1977 § 191 Abs. 1AO 1977 §§ 225, 249AnfG § 2

Instanzenzug: FG München (EFG 1998, 1241)

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nimmt den Kläger und Revisionskläger (Kläger) als Haftenden gemäß § 71 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch. Das FA legt dem Kläger Beihilfe an der Steuerhinterziehung des H zur Last. Dieser hatte nach den Feststellungen des durch Einschaltung der Firmen Pc und Ac unter anderem in den Streitjahren (1976 bis 1979) Einkommensteuer in der Weise hinterzogen, dass die Pc für die von dem Ingenieurbüro des H bis dahin erbrachten inländischen Leistungen Rechnungen ausstellte und die Ac wiederum der Pc für angebliche Akquisitionen, technische Berechnungen, Planungen, Abrechnungen und dergleichen Beträge berechnete. Auf diese Weise wurden Gewinne ins Ausland transferiert. Das FA nahm an, der Kläger habe maßgeblich bei der Gründung der Pc dazu beigetragen, eine Rechtskonstruktion zu wählen, die geeignet gewesen sei, in der Bundesrepublik Deutschland getätigte Geschäfte der deutschen Besteuerung zu entziehen.

Das FA erließ gegen den Kläger einen Haftungsbescheid. Der Haftungsbetrag setzt sich wie folgt zusammen:


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 Einkommensteuer              1978     153 220,29 DM
 Einkommensteuer              1979     212 724,00 DM
 Hinterziehungszinsen         1976      78 769,00 DM
                              1977      62 168,00 DM
                              1978      64 712,00 DM
                              1979      30 884,00 DM
                                       -------------
 Haftungsbetrag                        602 477,29 DM
 

Zugleich erließ das FA einen Haftungsbescheid gegen eine Frau M, dem dieselben Abgabenschulden des H zugrunde liegen. Aufgrund von Verhandlungen sicherte das FA M zu, dass der gegen sie gerichtete Haftungsbescheid nach Zahlung eines Betrages in Höhe von 200 000 DM auf diesen Betrag ermäßigt werde. Ihre Zahlung wurde mit 37 356,43 DM auf Einkommensteuer 1981 und mit 162 643,57 DM auf Einkommensteuer 1982 des H gebucht, nachdem ihr Anwalt erklärt hatte, dass das FA insoweit freie Hand habe.

Außerdem ergingen im Zusammenhang mit den Steuerschulden des H Duldungsbescheide, und zwar u. a. ein Bescheid über den Betrag von 1 082 025 DM gegen Herrn R, zunächst ein Mitarbeiter des H und später dessen Partner (als Wertersatzbescheid gestützt auf § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Anfechtungsgesetzes - AnfG -), und ein weiterer Duldungsbescheid gegen Frau H, die Ehefrau des H.

Das FA führte verschiedene Besprechungen durch, die zum Teil zu Zahlungsvereinbarungen führten. Dabei kam man auch überein, die von R zu erbringende Leistung auf 514 087 DM zu begrenzen. Frau H verpflichtete sich dem FA gegenüber zur Zahlung von 800 000 DM. Nach Eingang dieses Betrages hob das FA den gegen sie gerichteten Duldungsbescheid vereinbarungsgemäß auf. Hinsichtlich der Art und Weise der Zahlung des R und der weiteren Behandlung des gegen ihn ergangenen Wertersatzbescheides hat das FG keine Feststellungen getroffen.

Der Kläger wurde in erster Instanz durch Urteil des Amtsgerichts . . . wegen fortgesetzter Beihilfe zu einem fortgesetzten Vergehen der Steuerhinterziehung u. a. betreffend Einkommensteuer zu einer Gesamtgeldstrafe von 270 Tagessätzen zu je 450 DM verurteilt. Im Berufungsverfahren wurde das Strafverfahren wegen eingetretener Verjährung eingestellt.

Den gegen den Haftungsbescheid eingelegten Einspruch des Klägers wies das FA als unbegründet zurück.

Hiergegen wandte sich der Kläger mit der Klage. Er machte u. a. geltend, der Haftungsbescheid habe schon dem Grunde nach nicht ergehen dürfen, weil er keine Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet habe. Darüber hinaus habe das FA ermessenswidrig und entgegen der Regelung des § 225 AO 1977 von R und Frau H gezahlte Beträge in Höhe von 514 087 DM und 100 000 DM nicht auf die Hauptschuld gebucht. Vielmehr seien sie mit Säumniszuschlägen verrechnet worden. Auch die Verbuchung des von M gezahlten Betrages von 200 000 DM auf Einkommensteuer 1981 und 1982 sei rechtswidrig.

Die Klage hatte nur hinsichtlich zweier Teilbeträge in Höhe von 53 797 DM und 200 000 DM Erfolg. Hinsichtlich des ersten Betrages lag unstreitig ein Rechenfehler vor. Hinsichtlich des zweiten Betrages vertrat das FG die Auffassung, dass das FA die von M geleisteten 200 000 DM gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 mit der Einkommensteuerschuld des H für die Streitjahre 1978 und 1979 habe verrechnen müssen (, BFHE 129, 13, BStBl II 1980, 58).

Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers.

Gründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

I. Der Senat kann nicht gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) selbst entscheiden. Insbesondere lassen die Feststellungen des FG nicht den Schluss zu, dass der Kläger keine Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet hat. Selbst wenn die Verfahrensrügen des Klägers begründet sein sollten (s. dazu jedoch unten unter II. 2. c), käme nur eine Aufhebung und Zurückverweisung in Betracht (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

II. Die Feststellungen des FG reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob die Steuerschulden, für die der Kläger als Haftender in Anspruch genommen worden ist, nicht möglicherweise durch Zahlungen anderer Personen erloschen sind.

1. Entgegen der Auffassung des FG handelte es sich bei den Zahlungen, die R aufgrund des gegen ihn ergangenen Duldungsbescheids (§ 191 Abs. 1 AO 1977) geleistet hatte, nicht notwendigerweise um solche, bei denen das FA gemäß § 225 Abs. 3 AO 1977 die Reihenfolge der Tilgung hätte bestimmen können, weil sie im Verwaltungswege erzwungen waren. Auch der Duldungsverpflichtete kann ,,freiwillige Zahlungen'' i. S. des § 225 Abs. 1 und 2 AO 1977 erbringen. Das ergibt sich aus dem Sinn und Zweck der Regelung, die auch im Wortlaut ihren Niederschlag findet.

a) In Übereinstimmung mit § 366 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) kann der Steuerschuldner gemäß § 225 Abs. 1 AO 1977 bei freiwilliger Zahlung die Reihenfolge der Tilgung bestimmen. Im Gegensatz zur zivilrechtlichen Regelung (§ 367 BGB) kann er auch bestimmen, dass die Hauptschulden vor Kosten, Zinsen und anderen Nebenleistungen vorrangig getilgt werden. Das ist für ihn deshalb von Vorteil, weil bei steuerlichen Nebenleistungen weder Zinsen noch Säumniszuschläge anfallen (§§ 233 Satz 2, 240 Abs. 2 AO 1977). Auch wenn der Steuerpflichtige keine Tilgungsbestimmung trifft, geht § 225 Abs. 2 AO 1977 - anders als noch § 123 der Reichsabgabenordnung bis zur Änderung durch das Zweite Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom (Zweites Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze - 2. AOStrafÄndG -, BGBl. I, 953, 958) - grundsätzlich davon aus, dass die Hauptschulden vor den Nebenleistungen getilgt werden.

In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung und Rechtsprechung zu § 366 Abs. 1 BGB bestimmt § 225 Abs. 3 AO 1977, dass der Schuldner im Falle der zwangsweisen Beitreibung nicht das in Abs. 1 vorgesehene Bestimmungsrecht hat. Das wird damit begründet, dass im Falle der Vollstreckung die Befriedigung des Gläubigers nicht durch Leistung des Schuldners erfolgt, sondern dadurch, dass sich der Gläubiger selbst im Wege der Zwangsvollstreckung befriedigt (vgl. Planck/Siber, Bürgerliches Gesetzbuch, 4. Aufl. § 366 Anm. 5; RGRK/Weber, Bürgerliches Gesetzbuch, 12. Aufl. § 366 Rdnr. 3, jeweils m. w. N.; ähnlich von Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 225 AO 1977 Rdnr. 10). Die durch das 2. AOStrafÄndG erstmals vorgesehene Befugnis des FA, die Tilgungsreihenfolge im Falle der zwangsweisen Beitreibung nach billigem Ermessen zu bestimmen, beruht offenbar auf Praktikabilitätserwägungen (vgl. Begründung der Bundesregierung, BTDrucks V/1812, S. 39 f.). § 225 Abs. 3 AO 1977 enthält demzufolge keine Sanktion dafür, dass der Steuerpflichtige es zum Vollstreckungsverfahren hat kommen lassen, sondern eine Rechtsfolge, die mit der Natur der Befriedigung aus Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zusammenhängt. Der Gesetzeswortlaut trägt dem dadurch Rechnung, dass das Recht des FA, die Tilgungsreihenfolge zu bestimmen, sich nicht auf alle Zahlungen erstreckt, die nach Einleitung des Vollstreckungsverfahrens eingehen, sondern nur auf solche, die ,,erzwungen'' werden (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 225 AO 1977 Tz. 2; Kraemer, Deutsche Steuer-Zeitung 1986, 588, 589). Namentlich sind dies u. a. Erlöse aus Versteigerungen und freihändigen Verkäufen, Zahlungen von Drittschuldnern, die aufgrund von Einziehungsverfügungen verbunden mit Pfändungsverfügungen geleistet werden. Nicht darunter sollen Zahlungen fallen, die zur Abwendung einer Sachpfändung geleistet werden (Tipke/Kruse, a. a. O.; Kraemer, a. a. O.), wohingegen die ,,Freiwilligkeit'' von Zahlungen, die der Steuerpflichtige zur Abwendung von unmittelbar bevorstehenden Versteigerungen (also nach der Sachpfändung) leistet, umstritten ist (,,für Freiwilligkeit'' Tipke/Kruse, a. a. O.; dagegen Kraemer, a. a. O.).

b) Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass auch der Duldungsverpflichtete ,,freiwillig'' zahlen kann, solange gegen ihn keine Vollstreckungsmaßnahmen durchgeführt werden. Er ist Steuerpflichtiger i. S. des § 33 Abs. 1 letzte Alternative AO 1977. Das ist ohne weiteres einsichtig in Bezug auf denjenigen, der von einer steuerlichen Duldungspflicht i. S. des § 77 AO 1977 betroffen ist (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 33 AO 1977 Tz. 9). Es gilt aber gleichermaßen für den, der aufgrund privatrechtlicher Duldungspflichten gemäß § 191 AO 1977 durch Duldungsbescheid in Anspruch genommen werden kann. Das Verhältnis zwischen den steuerrechtlichen und den privatrechtlichen Duldungspflichten entspricht dem zwischen den entsprechenden Haftungstatbeständen (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., Vor § 69 AO 1977 Tz. 62). Insoweit steht außer Zweifel, dass auch der aufgrund außersteuerlicher Vorschriften Haftende Steuerschuldner i. S. des § 33 Abs. 1 AO 1977 ist. Maßgeblich für die Qualifikation als Steuerpflichtiger ist, dass der Betreffende durch Steuerverwaltungsakt als Schuldner einer Leistung herangezogen wird, die über die Erfüllung steuerlicher Mitwirkungspflichten i. S. des § 33 Abs. 2 AO 1977 hinausgeht. Zudem hat der Duldungsverpflichtete wie der Steuerschuldner ein Interesse daran, dass beispielsweise die Hauptschulden vor den Nebenleistungen getilgt werden, um das Entstehen weiterer Säumniszuschläge oder Zinsen, für die er ggf. ebenfalls einzustehen hätte, zu vermeiden. Auch hierfür findet sich ein Hinweis im Gesetzestext. § 225 Abs. 3 AO 1977 verweist hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals ,,im Verwaltungswege erzwungen'' auf § 249 AO 1977. Dort heißt es, dass die Finanzbehörden u. a. Verwaltungsakte, mit denen eine Duldung gefordert wird, im Verwaltungsweg vollstrecken können. Das bedeutet, dass der Duldungspflichtige nach der Vorstellung des Gesetzgebers im Wege des in § 249 AO 1977 vorgesehenen Verfahrens zur Zahlung gezwungen werden, dass er aber auch freiwillig leisten kann.

Hiernach kann es nicht darauf ankommen, ob - wie das FG meint - das Vorgehen nach dem AnfG ,,einer Zwangsvollstreckung vergleichbar'' ist. Die Rechtsfolgen des § 225 Abs. 3 AO 1977 könnten allenfalls dann eintreten, wenn bereits der Erlass eines auf das AnfG gestützten Duldungsbescheides als Vollstreckungsmaßnahme, also als Akt, durch den sich der Gläubiger selbst ohne Leistung des Duldungsverpflichteten befriedigt, zu sehen wäre (s. o. unter a). Davon kann jedoch keine Rede sein. Das Vorgehen nach dem AnfG setzt nicht einmal voraus, dass gegen den Steuerpflichtigen vollstreckt wird. Nach § 2 AnfG in der bis 1998 geltenden Fassung ist lediglich Voraussetzung, dass die Zwangsvollstreckung in das Vermögen des Schuldners zu einer vollständigen Befriedigung des Gläubigers nicht geführt hat oder anzunehmen ist, dass sie zu einer solchen nicht führen würde. Demnach wird in zahlreichen Fällen des Vorgehens nach dem AnfG die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner entweder bereits (erfolglos) beendet sein oder noch nicht begonnen haben (vgl. hierzu Tipke/Kruse, a. a. O., Vor § 249 AO 1977 Tz. 15 ff.).

Entgegen der Auffassung des FG kann die Zahlung durch den Anfechtungsgegner im Sinne des AnfG auch nicht mit der Zahlung eines Drittschuldners i. S. des § 309 ff. AO 1977 verglichen werden. Zahlungen des Drittschuldners werden aufgrund der Vollstreckung in eine Forderung des Vollstreckungsschuldners geleistet. Es handelt sich bei der notwendigen Pfändung und Einziehung (§§ 309, 314 AO 1977) um gegen den Steuerpflichtigen selbst gerichtete Vollstreckungsmaßnahmen im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 249 AO 1977.

Anders als vom FA in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, enthält § 225 Abs. 2 AO 1977 auch kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Art, dass vorrangig vollstreckbare Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis als getilgt gelten. Ist die Vollziehung des Verwaltungsaktes, durch den der Steuerpflichtige in Anspruch genommen wird, teilweise ausgesetzt, so kann hierin allerdings unter Umständen ein Indiz dafür zu sehen sein, dass der Leistende stillschweigend eine Bestimmung des Inhalts getroffen hat, dass zunächst die Beträge getilgt werden sollen, die nicht von der Aussetzung der Vollziehung betroffen sind (s. unten unter II. 1. e).

c) Da das FG-Urteil nicht diesen Grundsätzen entspricht, war es aufzuheben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Aus den vom FA zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erstmals vorgelegten Akten ergibt sich, dass R aufgrund des gegen ihn ergangenen Duldungsbescheides im Jahr 1988 ,,freiwillige'' Zahlungen in Höhe von 514 087 DM erbrachte. Sollte er hierbei keine Tilgungsbestimmung getroffen haben, so griffe die gesetzliche Tilgungsfolge des § 225 Abs. 2 AO 1977 ein. Die gegen H gerichteten Ansprüche des FA wären - soweit vom Duldungsbescheid erfasst - kraft Gesetzes in der durch diese Vorschrift angeordneten Reihenfolge erloschen (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 225 AO 1977 Tz. 4). Gleiches gälte für die entsprechenden Beträge im streitigen Haftungsbescheid. Etwas anderes würde gelten, wenn R im Zeitpunkt seiner Zahlung eine Tilgungsbestimmung i. S. des § 225 Abs. 1 AO 1977 getroffen hätte. Das hätte auch stillschweigend geschehen können (s. o. unter II. 1. b; Tipke/Kruse, a. a. O., § 225 AO 1977 Tz. 5). Dann wäre diese Bestimmung maßgeblich. Da - wie ausgeführt - § 225 Abs. 1 AO 1977 auf die Zahlungen des Duldungspflichtigen entsprechend anzuwenden ist (s. o. unter b), steht diesem das Bestimmungsrecht zu. Dasselbe gälte, wenn R mit dem FA eine Tilgungsvereinbarung getroffen hätte (Tipke/Kruse, a. a. O., § 225 AO 1977 Tz. 3 b, m. w. N.). Auch wenn diese Vereinbarung für den Kläger ungünstig gewesen wäre, läge hierin kein unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter. Durch eine solche Vereinbarung würde weder ein Anspruch gegen den Kläger begründet noch über sein Vermögen verfügt. Entgegen der Auffassung des FA ist eine nachträgliche Vereinbarung zwischen dem Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde nicht geeignet, eine in der gesetzlichen Reihenfolge des § 225 Abs. 2 AO 1977 erfolgte Tilgung rückgängig zu machen. Der BFH hat durch Beschluss vom VII B 72/94 (BFH/NV 1995, 373) entschieden, dass eine rückwirkende Tilgungsbestimmung nicht in Betracht kommt. Dasselbe muss auch für eine nachträgliche Tilgungsvereinbarung gelten. Andernfalls würde nämlich die gesetzliche Regelung des § 225 Abs. 2 AO 1977 unterlaufen, die anordnet, dass die gesetzliche Tilgungsreihenfolge gilt, sofern der Steuerpflichtige ,,bei'' Zahlung nichts anderes bestimmt. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn sich der Steuerpflichtige bei der Zahlung die Tilgungsreihenfolge vorbehalten hat (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 225 AO 1977 Tz. 3 a).

d) Durch das angefochtene Urteil hat das FG die Haftungsschuld des Klägers bereits auf 348 680 DM herabgesetzt. Nach dem vorstehend (unter c) Ausgeführten besteht daher die Möglichkeit, dass der streitige Haftungsbescheid infolge der freiwilligen Zahlungen des R gänzlich aufzuheben ist, ohne dass es auf die Frage ankäme, ob der Kläger zu Recht wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in Anspruch genommen worden ist.

2. Der Streitstoff des zweiten Rechtszuges ist nicht auf das bisherige Vorbringen und die vom FG festgestellten Tatsachen beschränkt (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 126 Rdnr. 14). Die nachfolgenden Hinweise zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten entfalten daher keine Bindungswirkung gemäß § 126 Abs. 5 FGO.

a) Da das FA seinerseits keine Revision eingelegt hat, ist die Herabsetzung des Haftungsbetrages auf 348 680 DM rechtskräftig geworden. Allerdings käme theoretisch eine Saldierung in Betracht, wenn sich im zweiten Rechtszug ergeben sollte, dass durch die Zahlungen des R zwar Steuerschulden, für die der Kläger als Haftender in Anspruch genommen worden ist, getilgt wurden, dass jedoch die vom FG im ersten Rechtszug für richtig gehaltene Anrechnung der von M gezahlten Beträge auf die Haftungsschuld fehlerhaft war. Letztere ist nach Auffassung des Senats bei Zugrundelegung des vom FG festgestellten Sachverhalts nicht der Fall. Die von M geleistete Zahlung in Höhe von 200 000 DM diente - untechnisch ausgedrückt - dazu, sie von der Inanspruchnahme aus dem gegen sie ergangenen Haftungsbescheid freizustellen. Das FG hat daher zutreffend festgestellt, dass sie den Betrag als Haftende und nicht als Dritte geleistet hat. Ihr Recht, gemäß § 225 Abs. 1 AO 1977 die Reihenfolge der Tilgung zu bestimmen, bewegte sich daher lediglich im Rahmen der im Haftungsbescheid berücksichtigten Steuerschulden.

b) Sollten die Zahlungen des R aus irgendeinem Grund nicht in vollem Umfang zur Tilgung der Beträge, für die der Kläger als Haftender in Anspruch genommen worden ist, ausreichen, so könnte es darauf ankommen, inwieweit eine solche Tilgung durch Zahlungen von Frau H eingetreten ist. Hier gilt das oben unter 1. c) Ausgeführte. Indem Frau H dem FA hinsichtlich der Verrechnung der von ihr gezahlten Beträge freie Hand ließ, hat sie eine Tilgungsvereinbarung mit dem FA getroffen, hinter der die gesetzliche Tilgungsreihenfolge des § 225 Abs. 2 AO 1977 zurücktrat. Die Inanspruchnahme des Klägers wäre nicht ermessensfehlerhaft, da das FA bei der erforderlichen Interessenabwägung auch fiskalische Interessen mitberücksichtigen darf (, Entscheidungen der Finanzgerichte 1995, 355).

c) Der Kläger wird - sofern es hierauf noch ankommen sollte - im zweiten Rechtszug erneut Gelegenheit haben, Umstände vorzutragen und ggf. unter Beweis zu stellen, die dagegen sprechen, dass H Steuern hinterzogen und er, der Kläger, Beihilfe hierzu geleistet hat. Solange er das - wie im ersten Rechtszug - nicht tut, ist das FG nicht gehindert, sich auf die Feststellungen in seinem gegen H ergangenen, rechtskräftigen Urteil vom 16 K 16050/87 sowie die ihm vorliegenden Strafermittlungsakten zu stützen. Die Frage, ob der in Haftung Genommene eine Steuerhinterziehung begangen oder an ihr teilgenommen hat, ist eine im Haftungsverfahren zu prüfende strafrechtliche Vorfrage. Im Allgemeinen ist es nicht zu beanstanden, wenn sich das FG die tatsächlichen Feststellungen, Beweiswürdigungen und rechtlichen Beurteilungen des Strafverfahrens zu Eigen macht, wenn und soweit es zu der Überzeugung gelangt ist, dass diese zutreffend sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine substantiierten Einwendungen gegen die Feststellungen im Strafurteil erhoben werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z. B. , BFHE 175, 489, BStBl II 1995, 198). Demgemäß kann sich das FG auch frühere eigene Erkenntnisse über eine Steuerhinterziehung oder eine Teilnahme an einem solchen Delikt zu Eigen machen. Dabei ist nicht Voraussetzung, dass der Kläger auch in dem Verfahren, auf das das FG zurückgreift, Beteiligter war. Wesentlich ist lediglich, dass dem Kläger das Urteil, auf das sich das FG stützen will, bekannt ist. Im Streitfall kommt hinzu, dass der Kläger Zugang zu den vom FG beigezogenen Ermittlungsakten hafte. Entgegen der Ansicht des Klägers folgt etwas anderes nicht daraus, dass er beispielsweise nicht beurteilen kann, ob etwa H es unterlassen hat, sachdienliche Beweisanträge zu stellen. Er hat selbst die Möglichkeit, derartige Anträge zu stellen. Sollte er dazu mangels tatsächlicher Kenntnisse nicht in der Lage sein, so gilt dies unabhängig davon, ob das FG auf ein gegen den Haupttäter gerichtetes früheres Urteil zurückgreift oder nicht.

Fundstelle(n):
BStBl 2001 II Seite 329
CAAAA-88890