BGH Urteil v. - 2 StR 447/17

Sexueller Kindesmissbrauch: Anforderungen an die Urteilsfeststellungen im Fall von "Aussage gegen Aussage"

Gesetze: § 261 StPO, § 267 Abs 1 StPO

Instanzenzug: LG Gera Az: 2 KLs 440 Js 34945/16 jug

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Herstellen kinderpornographischer Schriften in vier Fällen (Fälle 1 bis 4) und wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (Fall 5) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das wirksam auf die Verurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (Fall 5) beschränkte Rechtsmittel des Angeklagten, mit dem er die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend macht, hat mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensbeanstandung kommt es deshalb nicht mehr an.

I.

21. Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte etwa bis Ende 2011 mit der Zeugin    S.   sowie ihren Töchtern J.   und Je.     P.    zusammen. Dabei bildete sich zwischen dem Angeklagten und der am geborenen Nebenklägerin Je.    P.   ein Ersatzvaterverhältnis. Dieses bestand auch nach der Ende 2011 erfolgten Trennung des Angeklagten von   S.   und seinem Auszug aus der zuvor gemeinsam genutzten Wohnung fort. Die Nebenklägerin besuchte den Angeklagten bis März 2016 regelmäßig an Wochenenden, Feiertagen und in den Schulferien, wobei der Angeklagte auch Erziehungsaufgaben übernahm.

32. Nach den vom Revisionsangriff ausgenommenen Feststellungen zu den Fällen 1 bis 4 fertigte der Angeklagte am 18. Mai, 24. Mai, und am mit seinem Mobiltelefon Fotos von der Nebenklägerin, bei denen diese auf Veranlassung des Angeklagten obszöne Stellungen einnahm, so dass entweder ihre Vagina (Fälle 1 bis 3) oder ihr entblößter Oberkörper (Fall 4) zu sehen waren.

4An einem Tag im Zeitraum vom bis zum saßen der Angeklagte und die Nebenklägerin im Wohnzimmer der Wohnung. Die Nebenklägerin war nackt, der Angeklagte streichelte sie am ganzen Körper. Die Nebenklägerin nahm den Penis des Angeklagten in den Mund und befriedigte ihn zunächst oral. Danach befriedigte sich der Angeklagte bis zum Samenerguss selbst (Fall 5).

5Während der Angeklagte in der Hauptverhandlung eingeräumt hat, die Bilder in den Fällen 1 bis 4 gefertigt zu haben, hat er bestritten, sich jemals an der Nebenklägerin vergriffen zu haben. Das Landgericht hat den Angeklagten gleichwohl allein aufgrund der Angaben der Nebenklägerin auch im Fall 5 als überführt angesehen.

II.

6Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung hinsichtlich Fall 5 hält - auch unter Berücksichtigung des beschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsumfangs (vgl. , NStZ 2009, 401, 402) - sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

71. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen (Senat, Urteil vom - 2 StR 408/15 mwN). Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (Senat, Urteil vom - 2 StR 408/15). Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl., § 261 Rn. 3 und 38).

8Darüber hinaus hat der Bundesgerichtshof in Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, besondere Anforderungen an die Darlegung einer zur Verurteilung führenden Beweiswürdigung formuliert. Die Urteilsgründe müssen in einem solchen Fall erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind, erkannt, in seine Überlegungen einbezogen (vgl. , BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1; Beschluss vom - 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; Senat, Urteil vom - 2 StR 531/92, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Beweiswürdigung 15; Urteil vom - 2 StR 408/15) und auch in einer Gesamtschau gewürdigt hat (st. Rspr.; vgl. nur , NStZ-RR 2013, 19; Senat, Urteil vom - 2 StR 408/15 mwN). Erforderlich sind insbesondere eine sorgfältige Inhaltsanalyse der Angaben, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage (, NStZ-RR 2005, 232, 233), eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs (vgl. ), sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (Senat, Urteil vom - 2 StR 565/11, juris Rn. 9).

92. Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

10a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, sie leidet an Erörterungsmängeln.

11aa) Ein solcher Mangel liegt zunächst in der fehlenden Inhaltsanalyse der Aussage der Nebenklägerin. Dies lässt besorgen, dass das Landgericht der fehlenden Detailliertheit und Plausibilität der Aussage zum Kerngeschehen keine hinreichende Bedeutung beigemessen hat.

12Ausweislich der Urteilsgründe hat die Zeugin das (sexuelle) Kerngeschehen weitgehend ohne Realkennzeichen und teilweise einschränkend geschildert. Sie hat auf Nachfrage lediglich angeben, sie habe dem Angeklagten im Wohnzimmer einen „blasen“ sollen und er habe sie am ganzen Körper berührt. Sie glaube, seine Hose sei nach unten gezogen gewesen, der Angeklagte habe sie selbst herunter gezogen. Wie lange das gedauert habe, wisse sie nicht. Sie glaube, der Angeklagte sei zum Samenerguss gekommen. Dabei sei sein Penis nicht mehr in ihrem Mund gewesen, er habe sich dann selber angefasst. Er habe sich mit einem Taschentuch abgewischt und dieses weggeworfen.

13Dementsprechend fehlen der Aussage der Nebenklägerin weitgehend Realkennzeichen wie zum Beispiel die logische Konsistenz der Aussage, ein quantitativer Detailreichtum, eine räumlich-zeitliche Verknüpfung, die Schilderung ausgefallener Einzelheiten und eigener psychischer Vorgänge (vgl. KK-Ott, 7. Aufl. § 261 Rn. 31b). Zudem hat die Zeugin durch die mehrfache Einschränkung, sie „glaube“ das Tagesgeschehen habe sich wie beschrieben ereignet, ihre Erinnerung relativiert. Eine zeitliche Einordnung war ihr nicht möglich.

14Die Aussage, die den Tatzeitraum lediglich auf das elfte oder zwölfte Lebensjahr der Nebenklägerin eingrenzt, ohne dass diese Zeitangabe näher unterlegt ist, lässt einen nachvollziehbaren situativen Rahmen, in den das Tatgeschehen eingebettet war, vermissen. Nach der kargen Darstellung saß die Nebenklägerin ohne erkennbaren Grund nackt im Wohnzimmer, der Angeklagte streichelte sie „am ganzen Körper“. Die Aussage lässt offen, ob die Nebenklägerin Widerstand leistete oder ihren Unmut zum Ausdruck brachte. Die Aussage schweigt zu der Frage, was die Nebenklägerin zu ihrer Handlung bewog. Insgesamt ist nicht erkennbar, welche verbalen oder nonverbalen Zwischenakte das Geschehen begleiteten. Der Aussage ist weder zu entnehmen, ob es einer Aufforderung des Angeklagten zur Durchführung des Oralverkehrs bedurfte, noch, ob dieser die Beendigung des Oralverkehrs ohne Weiteres hinnahm.

15bb) Ein weiterer Mangel der Beweiswürdigung liegt darin, dass die Strafkammer unzureichend erörtert hat, warum die über mehrere Jahre vorgenommenen selbstverletzenden Handlungen der Nebenklägerin sich nicht auf deren Aussageverhalten ausgewirkt haben können. Denn die Strafkammer unterlegt ihre dahingehende Schlussfolgerung lediglich mit dem Hinweis auf den „persönlichen Eindruck“ von der Nebenklägerin, ohne diesen darzustellen.

16cc) Die Erwägung eines möglichen Falschbelastungsmotivs ist verkürzt geraten. Zwar spricht, worauf das Landgericht zutreffend hingewiesen hat, das vormals sehr gute Verhältnis zwischen der Nebenklägerin und dem Angeklagten gegen eine bewusste Falschbelastung. Das Landgericht hat indes unerörtert gelassen, warum es im März 2016 zum Abbruch der Besuchskontakte kam.

17b) Das Urteil lässt auch die aufgrund der Beweislage gebotene Gesamtwürdigung vermissen. Die Strafkammer hat sich darauf beschränkt, einzelne für die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin sprechende Gesichtspunkte darzustellen, ohne diese jedoch gegen die beweismindernden Faktoren abzuwägen. Hierbei hätte sie insbesondere in den Blick nehmen müssen, dass die Detailarmut die Bedeutung des Beurteilungskriteriums der Aussagekonstanz, auf den die Strafkammer ihre Überzeugungsbildung stützt, vermindern kann (Senat, Beschluss vom - 2 StR 219/15, juris Rn. 24, , NStZ 2000, 217).

183. Es ist nicht auszuschließen, dass das Tatgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung zu einer anderen Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin gelangt wäre. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2018:070218U2STR447.17.0

Fundstelle(n):
MAAAG-88659