EuGH Beschluss v. - C-192/16

Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 355 Abs. 3 AEUV – Status von Gibraltar – Art. 49 AEUVArt. 63 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Freier Kapitalverkehr – Rein interner Sachverhalt

Leitsatz

Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar aus der Sicht des Unionsrechts einen Sachverhalt darstellt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

Gesetze: AEUV Art 49, AEUV Art 355 Abs 3, AEUV Art 63

Instanzenzug:

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 355 Abs. 3 AEUV sowie die der Art. 49 und 63 AEUV.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Stephen Fisher, Frau Anne Fisher sowie Herrn Peter Fisher auf der einen und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs (Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich) auf der anderen Seite wegen an sie gerichteter Steuerbescheide der Steuer- und Zollverwaltung für die Jahre 2000 bis 2008.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Art. 73 in Kapitel XI („Erklärung über Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung”) der am in San Francisco unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen bestimmt:

„Mitglieder der Vereinten Nationen, welche die Verantwortung für die Verwaltung von Hoheitsgebieten haben oder übernehmen, deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben, bekennen sich zu dem Grundsatz, dass die Interessen der Einwohner dieser Hoheitsgebiete Vorrang haben; sie übernehmen als heiligen Auftrag die Verpflichtung, im Rahmen des durch diese Charta errichteten Systems des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das Wohl dieser Einwohner aufs Äußerste zu fördern …”

Status von Gibraltar

4 Gibraltar ist eine Kolonie der britischen Krone. Es gehört nicht zum Vereinigten Königreich.

5 Völkerrechtlich steht Gibraltar auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne von Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen.

6 Unionsrechtlich ist Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV wahrnimmt und auf das die Bestimmungen der Verträge Anwendung finden. Die Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und die Anpassungen der Verträge (ABl. 1972, L 73, S. 14, im Folgenden: Beitrittsakte von 1972) sieht jedoch vor, dass bestimmte Teile des Vertrags auf Gibraltar nicht anwendbar sind.

7 Art. 28 der Beitrittsakte von 1972 lautet:

„Die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend die Erzeugnisse des Anhangs II des EWG-Vertrags und die Erzeugnisse, die bei der Einfuhr in die Gemeinschaft infolge der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik einer Sonderregelung unterliegen, sowie die Rechtsakte betreffend die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sind auf Gibraltar nicht anwendbar, sofern der Rat nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt.”

8 Nach Art. 29 der Beitrittsakte von 1972 in Verbindung mit ihrem Anhang I Abschnitt I Nr. 4 ist Gibraltar vom Zollgebiet der Union ausgeschlossen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9 Zum Zeitpunkt der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse wohnten die Eheleute Stephen und Anne Fisher mit ihren beiden Kindern Peter und Dianne Fisher im Vereinigten Königreich, wo sich auch ihr gewöhnlicher Aufenthalt befand. Herr P. Fisher wohnte von Juli 2004 an nicht mehr im Vereinigten Königreich. Herr S. Fisher und Herr P. Fisher sind britische Staatsangehörige, während Frau A. Fisher die irische Staatsangehörigkeit besitzt.

10 Seit 1988 war die Familie Fisher zu 100 % Aktionärin der im Vereinigten Königreich ansässigen Stan James (Abingdon) Limited (im Folgenden: SJA). Diese Gesellschaft war auf dem Gebiet der Wettannahme tätig, wobei ihre Tätigkeit seit 1999 insbesondere den Betrieb von Wettannahmestellen, die Annahme von Telefonwetten (telebetting) und die Lieferung von Quoten an Wettunternehmen umfasste. Sie hatte zudem eine Niederlassung mit sechs Angestellten in Gibraltar, die Wetten aus Deutschland, Irland und Spanien annahm.

11 Im Jahr 1999 wurden die im Vereinigten Königreich ansässigen Wettunternehmen gemäß dem Betting and Gaming Duties Act 1981 (Gesetz von 1981 über die Besteuerung von Wetten und Glücksspielen) aufgefordert, auf die angenommenen Wetten eine Steuer zu berechnen, die in der Praxis durch eine den Kunden in Rechnung gestellte Gebühr von 9 % finanziert wurde, die dem berechneten Betrag hinzugerechnet wurde. Es war möglich, dass ein Kunde im Vereinigten Königreich bei einem in einem anderen Staat ansässigen Wettunternehmen eine Wette abschloss, wobei in diesem Fall diese Wette nicht dieser Steuer unterlag. In einem anderen Staat ansässigen Wettunternehmen war es untersagt, Werbung im Vereinigten Königreich zu treiben oder im Zusammenhang mit Wettgeschäften mit einem im Vereinigten Königreich ansässigen Unternehmen gemeinsam Ressourcen zu nutzen.

12 Ab Juli 1999 begann SJA, über ihre Niederlassung in Gibraltar von im Vereinigten Königreich ansässigen Kunden Wetten anzunehmen. Am übertrug SJA ihre Tätigkeiten der Annahme von Telefonwetten einschließlich ihrer Niederlassung in Gibraltar an die Stan James Gibraltar Limited (im Folgenden: SJG), eine nach dem Recht von Gibraltar gegründete und in Gibraltar ansässige Gesellschaft, deren Aktionärin zu 100 % die Familie Fisher war.

13 Herr S. Fisher und Herr P. Fisher sowie Frau A. Fisher wurden mit den in Streit stehenden Steuerbescheiden für die Jahre 2000 bis 2008 im Vereinigten Königreich wegen der von SJG erzielten gewerblichen Einkünfte zur Einkommensteuer herangezogen. Diese Steuerbescheide wurden gemäß den Bestimmungen von Section 739 des Income and Corporation Taxes Act 1988 (Gesetz von 1988 über die Einkommen- und Körperschaftsteuer) erlassen, das die Steuerflucht natürlicher Personen mittels der Übertragung von Aktivvermögen verhindern soll, wenn diese dazu führt, dass die Einkünfte an eine Person außerhalb des Vereinigten Königreichs gezahlt werden. Sofern diese Bestimmungen zur Anwendung kommen, schuldet der Übertragende die Steuer auf das Einkommen, das die außerhalb des Vereinigten Königreichs ansässige Person erzielt, unabhängig davon, ob er diese Einkünfte selbst erzielt hat, sofern er die Möglichkeit hatte, diese für sich zu beanspruchen und er im Vereinigten Königreich ansässig war.

14 Das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich) war der Auffassung, dass diese Bestimmungen im vorliegenden Fall anzuwenden seien und kein von den Klägern geltend gemachtes, dem nationalen Recht zuzurechnendes Verteidigungsmittel durchgreifen könne. Die Kläger haben jedoch vorgebracht, dass gemäß den im Urteil vom , Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (, EU:C:2006:544), aufgestellten Grundsätzen jede Belegung mit Einkommensteuer unter den Umständen des vorliegenden Falles eine unzulässige Beschränkung ihres in Art. 49 AEUV verankerten Rechts auf Niederlassungsfreiheit und/oder ihres Rechts auf freien Kapitalverkehr gemäß Art. 63 AEUV darstelle.

15 Das erstinstanzliche Gericht vertrat die Auffassung, dass die Herren S. und P. Fisher sich nicht auf Art. 49 AEUV und/oder Art. 63 AEUV berufen könnten, da SJG in Gibraltar ansässig sei und das Übertragungsgeschäft zwischen diesem Hoheitsgebiet und dem Vereinigten Königriech stattgefunden habe, so dass die Situation, die im vorliegenden Fall in Rede stehe, keine grenzüberschreitende Situation darstelle, auf die das Unionsrecht Anwendung finde. Frau A. Fisher könne sich dagegen auf diese Bestimmungen berufen, da sie irische Staatsangehörige sei, so dass die streitige Steuer nicht für sie gelten könne. Sowohl Herr S. Fisher und Herr P. Fisher als auch die Steuer- und Zollverwaltung legten gegen die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts Berufung ein.

16 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, bei dem die Berufung anhängig ist, hängt die Lösung der vor ihm aufgeworfenen Fragen, was die Ausübung der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich angeht, u. a. vom unionsrechtlichen Status von Gibraltar und der Rechtsstellung Gibraltars gegenüber dem Vereinigten Königreich nach dem Recht der Union und insbesondere nach den Art. 49 und 63 AEUV in Verbindung mit Art. 355 Abs. 3 AEUV ab. Es stellt klar, dass es den Gerichtshof nicht zur Vereinbarkeit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden des Vereinigten Königreichs mit dem Unionsrecht befrage, da es sich in der Lage sieht, nach Beantwortung der gestellten Fragen über den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden.

17 Unter diesen Umständen hat das Upper Tribunal (Tax and Chancery Chamber) (Rechtsmittelgericht [Kammer für Steuer- und Finanzsachen], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. In Bezug auf Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) und im Licht des konstitutionellen Verhältnisses zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich werden folgende Fragen vorgelegt:

    1. Sind Gibraltar und das Vereinigte Königreich im Hinblick auf das Unionsrecht so zu behandeln, als wären sie Teile eines einzigen Mitgliedstaats, und wenn ja, hat das zur Folge, dass Art. 49 AEUV zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar keine Anwendung findet, außer soweit er auf innerstaatliche Maßnahmen zur Anwendung kommen kann, oder sind sie – alternativ – im Hinblick auf Art. 49 AEUV als Einzelvorschrift in dieser Weise zu behandeln, so dass dieser Artikel keine Anwendung findet, außer soweit er auf innerstaatliche Maßnahmen zur Anwendung kommen kann?

    In zweiter Linie,

    b)

    Hat Gibraltar im Hinblick auf Art. 355 Abs. 3 AEUV den Verfassungsstatus eines gegenüber dem Vereinigten Königreich gesonderten Gebiets innerhalb der Union in dem Sinne, dass entweder die Ausübung des Rechts auf freie Niederlassung zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich als Handel innerhalb der Union im Sinne des Art. 49 AEUV zu betrachten ist oder Art. 49 AEUV mit der Wirkung gilt, dass Beschränkungen der Ausübung des Rechts auf freie Niederlassung durch Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs in Gibraltar (als gesondertes Gebiet) verboten sind?

    In zweiter Linie,

    c)

    Ist Gibraltar als Drittland oder Drittgebiet zu behandeln, mit der Wirkung, dass das Unionsrecht in Bezug auf den beiderseitigen Handel nur insoweit Anwendung findet, als es zwischen einem Mitgliedstaat und einem Nichtmitgliedstaat Anwendung findet?

    In zweiter Linie,

    d)

    Ist das konstitutionelle Verhältnis zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich in Bezug auf Art. 49 AEUV in anderer Weise zu beurteilen?

  2. Inwieweit – wenn überhaupt – ändert sich die Antwort auf die vorstehenden Fragen, wenn sie im Kontext des Art. 63 AEUV (also im Hinblick auf die Kapitalverkehrsfreiheit) anstelle des Art. 49 AEUV geprüft werden?

Zu den Vorlagefragen

18 Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden.

19 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

20 Mit seinen – zusammen zu behandelnden – Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar aus der Sicht des Unionsrechts einen Sachverhalt darstellt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

21 Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht, dessen Sache es ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (Urteil vom , Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania, , EU:C:2017:496, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung), den Gerichtshof weder um die Beantwortung der Frage ersucht, ob eine gesetzliche Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende des Vereinigten Königreichs, auf deren Grundlage die streitigen Steuerbescheide erlassen wurden, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, noch der Frage, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens Anknüpfungspunkte an das Unionsrecht vorliegen, so dass die Art. 49 und 63 AEUV im vorliegenden Fall anwendbar sind, wobei diese Prüfungen ebenfalls diesem Gericht obliegen.

22 Es beschränkt sich nämlich darauf, um Klarstellungen zu ersuchen, die das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar im Hinblick auf das Unionsrecht betreffen, um festzustellen, ob diese beiden Hoheitsgebiete im Sinne der Art. 49 und 63 AEUV als ein einziger Mitgliedstaat anzusehen sind.

23 Der Gerichtshof hat in Rn. 56 des Urteils vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association (, EU:C:2017:449), bereits entschieden, dass Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Erbringung von Dienstleistungen durch in Gibraltar niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer an im Vereinigten Königreich ansässige Personen unionsrechtlich gesehen einen Sachverhalt darstellt, der in keiner Hinsicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweist.

24 Auch wenn das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung auf die Art. 49 und 63 AEUV sowie auf Art. 355 Abs. 3 AEUV verweist, lässt diese Entscheidung offenkundig den Schluss zu, dass sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in den Jahren 2000 bis 2008 und damit vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zugetragen hat. Allerdings entspricht der Inhalt dieser Bestimmungen jedenfalls dem der vor dem Inkrafttreten dieses Vertrags geltenden Art. 43 und 56 EG sowie Art. 299 Abs. 4 EG.

25 Zweitens finden nach ständiger Rechtsprechung sowohl Art. 56 AEUV, in dem die Dienstleistungsfreiheit verankert ist, als auch die Art. 49 und 63 AEUV, die die Niederlassungsfreiheit bzw. den freien Kapitalverkehr regeln, auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, keine Anwendung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Ullens de Schooten, , EU:C:2016:874, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association, , EU:C:2017:449, Rn. 33).

26 Drittens sind die Art. 49 und 63 AEUV, wie Art. 56 AEUV, um den es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association (, EU:C:2017:449), ergangen ist, gemäß Art. 355 Abs. 3 AEUV auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar anwendbar. Die Ausnahmen von der Anwendbarkeit von Unionsmaßnahmen in bestimmten, in der Beitrittsakte von 1972 vorgesehenen Rechtsbereichen auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar betreffen nämlich weder die Niederlassungsfreiheit noch den freien Kapitalverkehr, die in diesen Art. 49 und 63 AEUV verankert sind.

27 Unter diesen Umständen kann keine andere Auslegung von Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit den Art 49 und 63 AEUV als jene vorgenommen werden, die der Gerichtshof hinsichtlich Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 56 AEUV im Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association (, EU:C:2017:449), vertreten hat.

28 Insoweit hat der Gerichtshof in Rn. 36 jenes Urteils klargestellt, dass der Umstand, dass Gibraltar nicht Teil des Vereinigten Königreichs ist, für die Feststellung, ob diese beiden Hoheitsgebiete für die Zwecke der Anwendung der Bestimmungen über die Grundfreiheiten einem einzigen Mitgliedstaat gleichzustellen sind, nicht ausschlaggebend sein kann.

29 Der Gerichtshof hat zu diesem Zweck zum Ersten die Voraussetzungen geprüft, unter denen Art. 56 AEUV auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar Anwendung findet, um dann in Rn. 39 jenes Urteils den Schluss zu ziehen, dass, soweit Art. 355 Abs. 3 AEUV die Anwendbarkeit der Bestimmungen des Unionsrechts – vorbehaltlich der hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs nicht relevanten Ausschlussregelungen – auf das Hoheitsgebiet Gibraltars erstreckt, Art. 56 AEUV in diesem Hoheitsgebiet unter denselben Voraussetzungen gilt wie im Vereinigten Königreich.

30 Diese Feststellung muss auch für die Art. 49 und 63 AEUV gelten, die, wie in Rn. 26 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, gemäß Art. 355 Abs. 3 AEUV uneingeschränkt auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar anzuwenden sind. Insoweit ist es ohne Belang, dass die Art. 49 und 63 AEUV für das Vereinigte Königreich als Mitgliedstaat und für Gibraltar als europäisches Hoheitsgebiet gelten, dessen auswärtige Beziehungen im Sinne von Art. 355 Abs. 3 AEUV ein Mitgliedstaat wahrnimmt (vgl. entsprechend Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association, , EU:C:2017:449, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Zum Zweiten hat der Gerichtshof festgestellt, dass es keine sonstigen Anhaltspunkte gibt, aufgrund deren die Beziehungen zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich für die Zwecke des auf diese beiden Gebiete anwendbaren Art. 56 AEUV als den Beziehungen zwischen zwei Mitgliedstaaten gleichartig angesehen werden könnten, und dabei insoweit klargestellt, dass es im Gegenteil darauf hinausliefe, die in Art. 355 Abs. 3 AEUV anerkannten Bande zwischen diesem Hoheitsgebiet und diesem Mitgliedstaat zu leugnen, wenn der Handel zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreich dem Handel zwischen zwei Mitgliedstaaten gleichgestellt würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association, , EU:C:2017:449, Rn. 41 und 42). Diese Beurteilung gilt in gleicher Weise für die Art. 49 und 63 AEUV.

32 Demnach ist Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV dahin auszulegen, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar hinsichtlich des Unionsrechts einen Sachverhalt darstellt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

33 Diese Auslegung kann durch das Vorbringen der Regierung von Gibraltar, wonach damit das Ziel des Art. 26 AEUV, das Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, und das nach der Auffassung dieser Regierung mit Art. 355 Abs. 3 AEUV verfolgte Ziel der Integration Gibraltars in den Binnenmarkt beeinträchtigt würden, nicht in Frage gestellt werden.

34 Dem Wortlaut von Art. 26 Abs. 2 AEUV nach umfasst der Binnenmarkt nämlich einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist, wobei die Art. 49 und 63 AEUV, was die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr betrifft, solche Bestimmungen darstellen. Wie bereits in Rn. 25 des vorliegenden Beschlusses festgestellt worden ist, verlangt die Anwendung von Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV auf einen bestimmten Sachverhalt aber das Vorliegen eines Merkmals mit Auslandsbezug.

35 Im Übrigen führt diese Auslegung nicht zur Unanwendbarkeit der Art. 49 und 63 AEUV auf das Hoheitsgebiet von Gibraltar. Diese Bestimmungen bleiben nämlich gemäß Art. 355 Abs. 3 AEUV auf dieses Hoheitsgebiet unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie für jedes andere Hoheitsgebiet in der Union, auf das er Anwendung findet, gelten, einschließlich der Voraussetzung des Vorliegens eines Auslandsbezugs, voll und ganz anwendbar (vgl. entsprechend Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association, , EU:C:2017:449, Rn. 47).

36 Die Erwägungen betreffend den Status von Gibraltar gemäß dem nationalen Verfassungsrecht oder gemäß dem Völkerrecht sprechen ebenso wenig gegen diese Auslegung, wie der Gerichtshof bereits im Wesentlichen in den Rn. 49 bis 55 des Urteils vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association (, EU:C:2017:449), festgestellt hat.

37 Insbesondere hinsichtlich der sich auf das Völkerrecht stützenden Argumente hat der Gerichtshof daran erinnert, dass Gibraltar unbestritten auf der Liste der Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung im Sinne des Art. 73 der Charta der Vereinten Nationen geführt wird. Die Auslegung von Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV im Sinne von Rn. 32 des vorliegenden Beschlusses hat aber keinerlei Auswirkung auf den völkerrechtlichen Status des Hoheitsgebiets von Gibraltar und kann nicht dahin verstanden werden, dass damit der gesonderte und unterschiedliche Status von Gibraltar angetastet würde (vgl. entsprechend Urteil vom , The Gibraltar Betting and Gaming Association, , EU:C:2017:449, Rn. 52 und 54).

38 Nach alledem ist auf die gestellten Fragen zu antworten, dass Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar aus der Sicht des Unionsrechts einen Sachverhalt darstellt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

Kosten

39 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 355 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 49 AEUV oder Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder der Kapitalverkehrsfreiheit durch britische Staatsangehörige zwischen dem Vereinigten Königreich und Gibraltar aus der Sicht des Unionsrechts einen Sachverhalt darstellt, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2017:762

Fundstelle(n):
CAAAG-72052