EuGH Urteil v. - C-246/16

Beschränkung des Rechts auf Verminderung der Besteuerungsgrundlage bei Nichtzahlung des Vertragspartners – Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten – Verhältnismäßigkeit des Zeitraums der Vorfinanzierung durch den Unternehmer

Leitsatz

Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nicht davon abhängig machen kann, dass ein Insolvenzverfahren erfolglos geblieben ist, wenn ein solches Verfahren mehr als zehn Jahre dauern kann.

Instanzenzug:

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Teil C Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Effektivität des Unionsrechts und der Neutralität der Mehrwertsteuer.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Enzo Di Maura und der Agenzia delle Entrate – Direzione Provinciale di Siracusa (Finanzamt – Direktion der Provinz Siracusa, Italien) (im Folgenden: Finanzamt) wegen eines Steuerbescheids für das Steuerjahr 2004 betreffend die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 11 Teil C Abs. 1 der Sechsten Richtlinie, der die Verminderung der Besteuerungsgrundlage regelt, bestimmt:

„Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Besteuerungsgrundlage unter von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

Jedoch können die Mitgliedstaaten im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von dieser Regel abweichen.”

Italienisches Recht

4 Art. 26 („Änderung der Besteuerungsgrundlage oder der Steuer”) Abs. 2 des Decreto del Presidente della Repubblica n. 633 – Istituzione e disciplina dell’imposta sul valore aggiunto (Dekret Nr. 633 des Präsidenten der Republik – Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer) vom (GURI Nr. 292 vom ) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Präsidialdekret) bestimmt:

„Wenn ein Umsatz, für den eine Rechnung ausgestellt worden ist, nach der in den Art. 23 und 24 vorgesehenen Registrierung in Folge von Nichtigerklärung, Annullierung, Widerruf, Auflösung, Kündigung oder Ähnlichem oder wegen vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung aufgrund erfolglos gebliebener Insolvenzverfahren oder Vollstreckungsverfahren oder in Folge der Anwendung vertraglich vorgesehener Nachlässe oder Rabatte ganz oder teilweise entfällt oder sich der zu versteuernde Betrag verringert, ist der Lieferer des Gegenstands oder der Dienstleistende berechtigt, die der Änderung entsprechende Steuer gemäß Art. 19 abzuziehen, indem er sie gemäß Art. 25 registriert. Der Erwerber oder Empfänger, der den Vorgang schon gemäß Art. 25 registriert hat, muss in einem solchen Fall unbeschadet seines Rechts auf Erstattung des an den Lieferer oder Dienstleistenden als Entschädigung gezahlten Betrags die Änderung nach Art. 23 oder Art. 24 registrieren.”

5 Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist diese Bestimmung von der italienischen Verwaltung und den italienischen Gerichten fortwährend dahin ausgelegt worden, dass der Steuerpflichtige, um eine Verminderung der Besteuerungsgrundlage bei Nichtbezahlung zu erreichen, beweisen müsse, dass Insolvenzverfahren erfolglos geblieben seien, was erst möglich sei, wenn die Frist für die Erklärungen zu einem etwaigen Teilungsplan abgelaufen sei oder in Ermangelung eines Teilungsplans, wenn die Frist für ein Rechtsmittel gegen den Beschluss über die Einstellung des Insolvenzverfahrens abgelaufen sei.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

6 Da einer seiner Kunden für zahlungsunfähig erklärt worden war, ohne eine Rechnung über 35 000 Euro beglichen zu haben, verminderte Herr Di Maura seine Besteuerungsgrundlage in entsprechender Höhe, wozu er sich auf der Grundlage der angeführten Bestimmungen des Präsidialdekrets berechtigt glaubte.

7 Das Finanzamt genehmigte diese Berichtigung nicht und führte zur Begründung aus, dass sie erst nach erfolgloser Durchführung eines Insolvenzverfahrens oder eines Einzelvollstreckungsverfahrens erfolgen dürfe, somit erst dann, wenn feststehe, dass die Forderung ausfalle, und nicht nach einer bloßen Erklärung der Zahlungsunfähigkeit wie dies beim Schuldner von Herrn Di Maura der Fall gewesen sei.

8 Herr Di Maura erhob Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Siracusa (Finanzgericht der Provinz Siracusa, Italien) und trug vor, dass eine Verminderung der Besteuerungsgrundlage wegen Nichtbezahlung der Gegenleistung schon zum Zeitpunkt der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners möglich sein müsse.

9 Dieses Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der angeführten Bestimmung des Präsidialdekrets mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der Effektivität des Unionsrechts und der Neutralität der Mehrwertsteuer, insbesondere in Anbetracht der durchschnittlichen Dauer der Insolvenzverfahren in Italien, die nicht selten zehn Jahre überschreite. Außerdem werde das Recht auf Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage durch das italienische Recht übermäßig beschränkt, da diese Art von Beschränkung nach der Sechsten Richtlinie an die Nichtbezahlung geknüpft sei und nicht an erfolglos gebliebene Insolvenzverfahren oder Vollstreckungsmaßnahmen.

10 Unter diesen Umständen hat die Commissione tributaria provinciale di Siracusa (Finanzgericht der Provinz Siracusa) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. Ist es angesichts des Art. 11 Teil C Abs. 1 und des Art. 20 Abs. 1 Buchst. b Satz 2 der Sechsten Richtlinie über die Minderung der Besteuerungsgrundlage und über die Berichtigung der für steuerpflichtige Umsätze in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer im Fall vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung der von den Parteien vereinbarten Gegenleistung mit den vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität und dem für die Anwendung der Mehrwertsteuer geltenden Grundsatz der Neutralität vereinbar, Beschränkungen aufzuerlegen, die dem Steuerpflichtigen die Erstattung der Steuer für die vollständig oder teilweise nicht bezahlte Gegenleistung unmöglich machen oder übermäßig erschweren – auch wegen des Zeitfaktors, der mit der unvorhersehbaren Dauer eines Insolvenzverfahrens verbunden ist?

  2. Falls die erste Frage zu bejahen ist: Ist mit den oben genannten Grundsätzen eine Vorschrift vereinbar, die – wie Art. 26 Abs. 2 des Präsidialdekrets – das Recht auf Erstattung der Steuer von dem Beweis abhängig macht, dass zuvor ohne Erfolg Insolvenzverfahren durchgeführt worden sind, d. h., dass eine Erstattung nach der Rechtsprechung und der Praxis der Steuerbehörde des Mitgliedstaats ausschließlich nach der erfolglosen endgültigen Verteilung der Aktiva oder, falls es keine gibt, nachdem der endgültige Beschluss über die Einstellung des Insolvenzverfahrens ergangen ist, stattfindet, auch wenn solche Verfahren aufgrund des Betrags der Forderung, der Aussichten auf ihre Einziehung und der Kosten der Insolvenzverfahren vernünftigerweise als unwirtschaftlich zu betrachten sind und in Erwägung dessen, dass jedenfalls die genannten Voraussetzungen erst Jahre nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt sein können?

Zu den Vorlagefragen

11 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung davon abhängig machen kann, dass ein Insolvenzverfahren erfolglos geblieben ist, wenn ein solches Verfahren mehr als zehn Jahre dauern kann.

12 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie mit dem Ziel, die Besteuerungsgrundlage zu harmonisieren, vorsieht, dass im Inland grundsätzlich alles Besteuerungsgrundlage ist, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll.

13 Diese Bestimmung ist Ausdruck eines tragenden Grundsatzes der Sechsten Richtlinie, nach dem die Besteuerungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist und aus dem folgt, dass die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen Betrag erheben darf, der den übersteigt, der dem Steuerpflichtigen selbst an Mehrwertsteuer gezahlt wurde (Urteil vom , Goldsmiths, , EU:C:1997:339, Rn. 15).

14 Gemäß diesem Grundsatz verpflichtet Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie, der die Fälle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung und des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes betrifft, die Mitgliedstaaten, die Besteuerungsgrundlage und damit den vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuerbetrag zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach Bewirkung des Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Goldsmiths, , EU:C:1997:339, Rn. 16).

15 Nach Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie können die Mitgliedstaaten im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von der in der vorstehenden Randnummer genannten Regel abweichen.

16 Im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Kaufpreises, wenn es nicht zu einer Auflösung oder Annullierung des Vertrags kommt, schuldet der Käufer nämlich weiter den vereinbarten Preis und dem Verkäufer steht, auch wenn er nicht mehr Eigentümer des Gegenstands ist, grundsätzlich immer noch seine Forderung zu, die er vor Gericht geltend machen kann. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine solche Forderung tatsächlich endgültig uneinbringlich wird, wollte der Unionsgesetzgeber jedem Mitgliedstaat die Entscheidung überlassen, zu bestimmen, ob der Fall der Nichtbezahlung des Kaufpreises, die als solche im Gegensatz zur Auflösung oder Annullierung des Vertrags die Parteien nicht in ihre Ausgangslage zurückversetzt, ein Recht auf entsprechende Verminderung der Besteuerungsgrundlage unter den von ihm festgelegten Bedingungen eröffnet oder ob eine solche Verminderung in diesem Fall nicht zulässig ist (Urteil vom , Almos Agrárkülkereskedelmi, , EU:C:2014:328, Rn. 25).

17 Diese strikt auf den Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung beschränkte Abweichungsbefugnis beruht jedoch, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, auf der Erwägung, dass es unter bestimmten Umständen und aufgrund der Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat schwierig sein kann, nachzuprüfen, ob die Gegenleistung endgültig oder nur vorläufig nicht erbracht worden ist (Urteil vom , Goldsmiths, , EU:C:1997:339, Rn. 18).

18 Die Ausübung einer solchen Abweichungsbefugnis muss daher gerechtfertigt werden, damit die von den Mitgliedstaaten zu ihrer Durchführung erlassenen Maßnahmen das mit der Sechsten Richtlinie verfolgte Ziel der Steuerharmonisierung nicht zunichtemachen (Urteil vom , Goldsmiths, , EU:C:1997:339, Rn. 18).

19 Aus Rn. 23 des Urteils vom , Almos Agrárkülkereskedelmi (, EU:C:2014:328), ergibt sich zwar in entsprechender Anwendung, dass sich die Steuerpflichtigen im Fall der Nichtbezahlung des Preises nicht auf ein Recht zur Verminderung ihrer Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer gemäß Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie berufen können, wenn der betreffende Mitgliedstaat von der Ausnahme nach Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie hat Gebrauch machen wollen.

20 Jedoch ist diese Begründung entgegen der Auffassung der italienischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs, wie die Generalanwältin in den Nrn. 32 bis 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht dahin zu verstehen, dass damit die in den Rn. 17 und 18 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung dadurch in Frage gestellt werden soll, dass die Mitgliedstaaten die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer einfach ohne Weiteres ausschließen könnten.

21 Insoweit ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Ausnahmen eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Kommission/Deutschland, , EU:C:2002:388, Rn. 47, vom , Horizon College, , EU:C:2007:343, Rn. 16, und vom , PFC Clinic, , EU:C:2013:198, Rn. 23). Dem Wortlaut von Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie selbst ist zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten zwar von der im ersten Unterabsatz vorgesehenen Berichtigung der Besteuerungsgrundlage abweichen können, sie jedoch vom Unionsgesetzgeber nicht die Befugnis erhalten haben, sie einfach ohne Weiteres auszuschließen.

22 Dieses Ergebnis wird durch eine teleologische Auslegung von Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie bestätigt. Zwar ergibt es Sinn, dass die Mitgliedstaaten der in Rn. 16 des vorliegenden Urteils angeführten Unsicherheit über die Endgültigkeit der Nichtbezahlung einer Rechnung entgegenwirken können, doch kann eine solche Abweichungsbefugnis nicht über diese Unsicherheit hinausgehen und sich insbesondere nicht auf die Frage erstrecken, ob eine Verminderung der Besteuerungsgrundlage bei Nichtbezahlung entfallen kann.

23 Würde zugelassen, dass die Mitgliedstaaten jede Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausschließen könnten, liefe dies auch dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zuwider, aus dem sich insbesondere ergibt, dass der Unternehmer in seiner Eigenschaft als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Securenta, , EU:C:2008:166, Rn. 25, und vom , Malburg, , EU:C:2014:147, Rn. 41).

24 Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist daher zu prüfen, inwieweit eine Regelung über die Verminderung der Besteuerungsgrundlage wie die im Ausgangsverfahren fragliche gerechtfertigt ist.

25 Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, müssen die Mittel zur Umsetzung der Sechsten Richtlinie zur Erreichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele geeignet sein und dürfen nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. entsprechend Urteil vom , Kommission/Niederlande, , EU:C:2012:243, Rn. 75).

26 Wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, soll mit der in Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Ausnahme vom Recht auf Verminderung der Besteuerungsgrundlage der Unsicherheit über die Endgültigkeit der Nichtbezahlung einer Rechnung entsprochen werden.

27 Dieser Unsicherheit wird in den im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Rechtsvorschriften offenkundig im Wesentlichen dadurch Rechnung getragen, dass dem Steuerpflichtigen das Recht auf Verminderung der Besteuerungsgrundlage so lange vorenthalten wird, wie die Forderung nicht endgültig uneinbringlich ist. Derselbe Zweck könnte jedoch auch dadurch verfolgt werden, dass die Verminderung zuerkannt wird, wenn der Steuerpflichtige eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Ausfall der Schuld darlegt, aber die Besteuerungsgrundlage heraufgesetzt werden kann, wenn die Zahlung dennoch erfolgen sollte. Es wäre dann Sache der nationalen Behörden, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter richterlicher Kontrolle die Nachweise für eine wahrscheinlich länger dauernde Nichtbezahlung festzulegen, die der Steuerpflichtige unter Berücksichtigung der Besonderheiten des anzuwendenden nationalen Rechts beizubringen hat. Eine solche Ausgestaltung wäre auch zur Erreichung des verfolgten Ziels wirksam und zugleich weniger belastend für den Steuerpflichtigen, der die Vorfinanzierung der Mehrwertsteuer sicherstellt, indem er sie für Rechnung des Staates einzieht, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist.

28 Die Feststellung in der vorstehenden Randnummer gilt umso mehr im Kontext nationaler Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, bei deren Anwendung in der Praxis erst nach rund zehn Jahren sicher feststeht, dass die Forderung endgültig uneinbringlich ist. Eine solche Dauer kann jedenfalls für die diesen Rechtsvorschriften unterliegenden Unternehmer im Fall der Nichtbezahlung einer ihrer Rechnungen zu einem Liquiditätsnachteil gegenüber ihren Mitbewerbern aus anderen Mitgliedstaaten führen, der offensichtlich das mit der Sechsten Richtlinie verfolgte Ziel der Steuerharmonisierung zunichtemachen könnte.

29 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nicht davon abhängig machen kann, dass ein Insolvenzverfahren erfolglos geblieben ist, wenn ein solches Verfahren mehr als zehn Jahre dauern kann.

Kosten

30 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 11 Teil C Abs. 1 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nicht davon abhängig machen kann, dass ein Insolvenzverfahren erfolglos geblieben ist, wenn ein solches Verfahren mehr als zehn Jahre dauern kann.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2017:887

Fundstelle(n):
SAAAG-70094