BVerwG Beschluss v. - 9 B 22/16

Verzicht auf mündliche Verhandlung (§ 130a VwGO); Voraussetzungen bei komplexer Rechtslage

Gesetze: § 6 Abs 1 S 1 KAG ST, § 6 Abs 8 S 1 KAG ST, § 6 Abs 6 S 2 KAG ST, § 18 Abs 2 KAG ST, § 130a S 1 VwGO, Art 6 Abs 1 MRK

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 4 L 113/15 Beschlussvorgehend VG Halle (Saale) Az: 4 A 14/14 HAL

Gründe

1Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar rechtfertigt das Beschwerdevorbringen nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 1.). Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht jedoch auf einem Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; 2.). Dies führt zu seiner Aufhebung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht (3.).

21. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Regelung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf (stRspr; vgl. etwa 6 B 24.07 - juris Rn. 2). Dass diese Voraussetzungen vorliegen, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.

3a) Grundsätzliche Bedeutung verleiht der Rechtssache zunächst nicht die Frage:

"Kann ein Beitragsbescheid für die Herstellung der zentralen öffentlichen Abwasseranlage zur Abgeltung der durch die Inanspruchnahme oder die Möglichkeit der Inanspruchnahme entstehenden besonderen wirtschaftlichen Vorteile, der für rechtswidrig erklärt worden ist, ohne Änderung seiner satzungsmäßigen Bezugsgrundlagen in eine nachträgliche und zum Zeitpunkt des Erlasses des Beitragsbescheides noch nicht wirksame Satzung hineinwachsen und damit aus der Rechtswidrigkeit hinaus in eine Rechtmäßigkeit hinein kommen, obwohl der Beitragsschuldner derjenige bleibt, der bei Zugang des rechtswidrigen Bescheides Eigentümer des vorteilsbehafteten Grundstücks gewesen ist?"

4Denn dabei handelt es sich nicht um eine Frage des revisiblen Bundes-, sondern des nicht revisiblen Landesrechts.

5aa) Die Klägerin möchte der Sache nach geklärt wissen, ob ein Bescheid zur Festsetzung eines Abwasserbeitrags nach § 6 Abs. 1 Satz 1 des Kommunalabgabengesetzes des Landes Sachsen-Anhalt (KAG-LSA) im Berufungsverfahren noch dadurch geheilt werden kann, dass nach Erlass des Bescheides, des Widerspruchsbescheids und eines erstinstanzlichen Urteils erstmals eine wirksame Beitragssatzung in Kraft gesetzt wird. Dahinter steht die Frage, auf welche Sach- und Rechtslage bei der Prüfung der Begründetheit der Anfechtungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in solchen Fällen abzustellen ist. Dies richtet sich allerdings nicht nach Verwaltungsprozessrecht, sondern nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht ( 8 C 87.88 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 218 S. 53 m.w.N.). Ob das Inkrafttreten einer wirksamen Beitragssatzung während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens einen mangels einer solchen Satzung zunächst rechtswidrigen Beitragsbescheid mit der Folge heilt, dass er nicht mehr nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufgehoben werden kann, ist daher eine Frage der Auslegung der nicht revisiblen Bestimmungen des Kommunalabgabengesetzes des Landes Sachsen-Anhalt, die die Erhebung von Herstellungsbeiträgen für leitungsgebundene öffentliche Einrichtungen regeln.

6Soweit die Klägerin das vom Oberverwaltungsgericht gefundene Ergebnis für rechtsstaatswidrig hält, wirft die Beschwerde eine grundsätzliche klärungsbedürftige Frage des Bundesrechts nicht auf. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vermag die Nichtbeachtung von Bundesrecht bei der Auslegung und Anwendung von Landesrecht die Zulassung der Revision allenfalls dann zu begründen, wenn die Auslegung der - gegenüber dem Landesrecht als korrigierender Maßstab angeführten - bundesrechtlichen Normen ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft. Die angeblichen bundesrechtlichen Maßgaben, deren Tragweite und Klärungsbedürftigkeit im Hinblick auf die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen sowie die Entscheidungserheblichkeit ihrer Klärung in dem anhängigen Verfahren sind in der Beschwerdebegründung darzulegen (BVerwG, Beschlüsse vom - 6 B 53.03 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 38 S. 30 f. und vom - 6 B 24.07 - juris Rn. 4 jeweils m.w.N.). Daran fehlt es hier (zur grundsätzlichen Möglichkeit der Heilung eines rechtswidrigen Beitragsbescheids durch eine nachträglich in Kraft getretene Beitragssatzung vgl. im Übrigen 8 C 12.81 - BVerwGE 64, 356 <358> zum Erschließungsbeitragsrecht).

7bb) Soweit die Frage der Klägerin darüber hinaus darauf abzielt, ob die nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts gegebene Möglichkeit, wegen fehlender Satzungsgrundlage rechtswidrige Beitragsbescheide durch den Erlass einer wirksamen Satzung ex nunc zu heilen (OVG Magdeburg, Urteil vom - 4 L 155/09 - juris Rn. 83), auch dann besteht, wenn das Grundstück in der Zeit vom Erlass des Bescheids bis zum Inkrafttreten der wirksamen Satzung auf einen neuen Eigentümer übergegangen ist, ist auch dies eine Frage des nicht revisiblen Landesrechts. Maßgeblich ist insoweit § 6 Abs. 8 Satz 1 KAG-LSA. Danach ist beitragspflichtig, wer im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Beitragsbescheids Eigentümer des Grundstücks ist. Das Oberverwaltungsgericht hat dies so ausgelegt, dass § 6 Abs. 8 Satz 1 KAG-LSA im Falle eines Inkrafttretens der Beitragssatzung nach Erlass des Beitragsbescheids nur dann gilt, wenn derjenige, dem der Bescheid bekannt gegeben worden ist, im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflicht nach § 6 Abs. 6 Satz 2 KAG-LSA noch Eigentümer des Grundstücks ist (OVG Magdeburg, Urteil vom a.a.O. Rn. 86 m.w.N.).

8b) Grundsätzliche Bedeutung verleiht der Rechtssache auch nicht die Frage:

"Ist die Übergangsbestimmung des § 18 Abs. 2 KAG-LSA als verfassungswidrig anzusehen?"

9Gemessen an dem bereits erläuterten Darlegungserfordernis lässt sich der Beschwerdebegründung auch bezüglich der Frage der Verfassungswidrigkeit von § 18 Abs. 2 KAG-LSA, nach dem die gemäß § 13b KAG-LSA mit Ablauf des zehnten Kalenderjahrs nach Eintritt der Vorteilslage endende Ausschlussfrist für die Erhebung von Beiträgen nicht vor dem Ablauf des Jahres 2015 endet, keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache entnehmen. Zwar benennt die Klägerin mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes, der Beitragssicherheit und -klarheit und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (vgl. - BVerfGE 133, 143 Rn. 41 ff.) diejenigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe, mit denen § 18 Abs. 2 KAG-LSA ihrer Ansicht nach nicht vereinbar ist. Sie legt aber in keiner Weise dar, welche verfassungsrechtlichen Fragen von grundsätzlicher Bedeutung sich bei der Anwendung dieser Maßstäbe im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit von § 18 Abs. 2 KAG-LSA mit dem Grundgesetz stellen sollen.

102. Es ist jedoch ein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gegeben. Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor (a). Auf ihm beruht der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts auch (b).

11a) Das Oberverwaltungsgericht durfte nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entscheiden.

12aa) Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Berufungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Entscheidung darüber, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, steht dabei im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie kann nur darauf hin überprüft werden, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat ( 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213>).

13Bei der Ausübung seines Ermessens hat das Berufungsgericht neben der Komplexität und Schwierigkeit des Rechtsstreits ( 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <213 ff.>; Beschluss vom - 9 B 61.11 - Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 61 Rn. 4 m.w.N.) insbesondere Art. 6 Abs. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten ( 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 23; Beschlüsse vom - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 9 S. 16, vom - 4 B 42.05 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 10 S. 20 und vom - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 5). Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK hat jede Person das Recht, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhendem Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und in angemessener Frist verhandelt wird. Die Regelung verlangt, dass die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren mindestens einmal die Gelegenheit erhalten, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen. Sie gilt nicht nur im Zivilprozess, sondern auch für verwaltungsgerichtliche Verfahren (stRspr, vgl. 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 6 m.w.N.), namentlich wenn sie wie hier die Festsetzung von Beiträgen für die Möglichkeit der Inanspruchnahme kommunaler Einrichtungen betreffen (EGMR, Urteil vom - Nr. 38033/02, Stork/Deutschland - NVwZ 2007, 1035 Rn. 26 ff. für Erschließungsbeiträge; 8 B 102.98 - Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 40 S. 10 ff. für Kanalanschlussbeiträge).

14Hat wie hier in erster Instanz eine öffentliche mündliche Verhandlung stattgefunden, muss im Berufungsverfahren allerdings nicht stets erneut mündlich verhandelt werden. Maßgebend sind vielmehr die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens. Danach kann eine mündliche Verhandlung entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage sachgerecht entschieden werden können ( 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 23; Beschlüsse vom - 4 B 68.03 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 9 S. 18 und - 4 B 42.05 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 10 S. 20 jeweils m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR). Umgekehrt entfaltet das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit im Rahmen einer mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern, eine umso stärkere Bedeutung, je vielschichtiger der Streitstoff ist und je schwieriger und komplexer die Rechtsfragen sind, die sich dem Berufungsgericht stellen ( 10 C 13.09 - BVerwGE 138, 289 Rn. 24). Das gilt insbesondere dann, wenn nach der erstinstanzlichen Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine Änderung der entscheidungserheblichen Rechtslage eingetreten ist, die dazu führt, dass sich das Berufungsgericht im Instanzenzug erstmals mit den betreffenden Rechtsfragen zu befassen hat.

15bb) Nach diesen Maßstäben hat das Oberverwaltungsgericht hier ermessensfehlerhaft nach § 130a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss entschieden. Es hat bei seiner Ermessensausübung die Anforderungen aus Art. 6 Abs. 1 EMRK unbeachtet gelassen. Insbesondere hat es nicht berücksichtigt, dass der Erlass der neuen Beitragssatzung des Beklagten vom im Berufungsverfahren eine Vielzahl schwieriger entscheidungserheblicher Rechtsfragen aufwarf, die sich im erstinstanzlichen Verfahren so nicht gestellt hatten.

16So hatte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung, eine auf Grund fehlender Satzungsgrundlage bestehende Rechtswidrigkeit des Beitragsbescheids werde durch eine neue Satzung ex nunc geheilt, insbesondere die formelle und materielle Rechtmäßigkeit der Beitragssatzung vom zu prüfen. Außerdem musste es klären, ob die Voraussetzungen für die Beitragserhebung nach dieser Satzung erfüllt waren. Auch die Fragen der Festsetzungsverjährung sowie der Anwendbarkeit und Verfassungsmäßigkeit der §§ 13b und 18 Abs. 2 KAG-LSA, insbesondere ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit, wurden erst im Hinblick auf die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts entscheidungserheblich, eine Beitragspflicht sei auf der Grundlage der Beitragssatzung vom entstanden. Gleiches gilt für die im Berufungsurteil erörterte Abgrenzung einer konstitutiven von einer (nur) deklaratorischen Gesetzesänderung und die daran anknüpfende Rückwirkungsproblematik (vgl. dazu LVerfG Dessau, Urteil vom - LVG 1/16 - abweichende Meinung, Rn. 86 ff.; VG Magdeburg, Beschluss vom - 9 A 105/14 - juris Rn. 26 ff.; zu den Voraussetzungen einer konstitutiven Gesetzesänderung s. auch - BVerfGE 135, 1 Rn. 46, 49 ff., 52 f.). Für das Verwaltungsgericht, das von der Unwirksamkeit der bis zu seiner Entscheidung ergangenen Beitragssatzungen ausging, waren alle diese komplexen Rechtsfragen nicht entscheidungserheblich gewesen.

17b) Die fehlerhafte Anwendung des § 130a Satz 1 VwGO hat einen Verstoß gegen § 101 Abs. 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO und damit gleichzeitig eine Verletzung des Rechts der Klägerin auf rechtliches Gehör zur Folge, auf der die angegriffene Entscheidung wegen § 138 Nr. 3 VwGO auch beruht ( 6 C 28.03 - BVerwGE 121, 211 <221>; Beschluss vom - 8 B 47.14 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 9).

183. Liegen damit die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor, kann das Bundesverwaltungsgericht nach § 133 Abs. 6 VwGO das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen. Da die Grundsatzrügen der Klägerin nicht durchgreifen, macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.

19Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 3 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2017:080317B9B22.16.0

Fundstelle(n):
DAAAG-55717