BGH Beschluss v. - 2 ARs 196/16

Gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung: Verwaltungsrechtsweg für Klage auf Aufhebung einer Einstufung in eine Risikogruppe durch das Landeskriminalamt

Gesetze: Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 17a GVG, § 36 Abs 1 Nr 6 ZPO, § 40 Abs 1 S 1 VwGO, § 78 VwGO, § 27 PolG NW, § 28 PolG NW, § 30 Abs 2 PolG NW

Gründe

1Die Vorlage betrifft einen (negativen) Zuständigkeitsstreit zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige, hier dem Landgericht Koblenz - Strafvollstreckungskammer in Diez - und dem Verwaltungsgericht Düsseldorf. Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:

I.

21. Der Kläger, der zu diesem Zeitpunkt in der Sicherungsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt in Diez (Rheinland-Pfalz) untergebracht war, erhielt im August 2014 im Rahmen seiner Entlassungsvorbereitung eine vorläufige Zusage für eine betreute Wohneinrichtung in Soest (Nordrhein-Westfalen). Im September 2014 widerrief die Einrichtung ihre Zusage mit der Begründung, sie habe von der Polizei erfahren, dass der Kläger nach seiner Entlassung in die Risikogruppe A der Konzeption „KURS NRW“ (Konzeption zum Umgang rückfallgefährdeter Sexualstraftäter in Nordrhein-Westfalen) gemäß Anlage zum Gem. RdErl. d. JM (4201 – III. 18), d. IM (4 – 62.12.03) und d. MAGS (III B 1 – 1211.4 [KURS]) vom eingestuft worden sei; Angehörige dieser Risikogruppe nähme die Einrichtung grundsätzlich nicht auf. Auf Nachfrage des Klägers bei der Polizei in Soest wurde dieser an das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (Zentralstelle KURS) verwiesen. Es hätten bereits zwei Fallkonferenzen stattgefunden, in denen die entsprechenden Entscheidungen getroffen worden seien.

3Im September 2014 erhob der Kläger beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen Widerspruch gegen seine Einstufung in die Risikogruppe A gemäß der Konzeption KURS NRW. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass sein Widerspruch mangels Vorliegens einer polizeilichen Maßnahme mit Außenwirkung nicht statthaft sei. Auch im weiteren Verfahren hat sich das Landeskriminalamt auf den Standpunkt gestellt, dass die vom Kläger angegriffene Gefahreneinstufung durch das Landeskriminalamt keinen Verwaltungsakt darstelle. Die dort angesiedelte Zentralstelle KURS NRW nehme lediglich „eine Bündelung“ von Informationen in Bezug auf unter Führungsaufsicht stehende Sexualstraftäter vor. Ein Antrag des Klägers auf Akteneinsicht wurde abgelehnt.

4Im April 2015 erhob der Kläger beim Verwaltungsgericht Düsseldorf Klage gegen das Bundesland Nordrhein-Westfalen, vertreten durch das Ministerium für Inneres. In der Hauptsache beantragt er, seine Einstufung durch das beklagte Land in die Risikogruppe A nach der Konzeption KURS NRW aufzuheben. Er ist der Auffassung, dass die polizeiliche Einstufung des Klägers in eine Risikogruppe spätestens nach der Mitteilung an Dritte eine Maßnahme mit Außenwirkung darstelle. Im Rahmen seiner Anhörung hat der Kläger nochmals klargestellt, dass sich die Klage gegen die von der Polizei in Nordrhein-Westfalen vorgenommene Einstufung richte und nicht gegen eine eventuell daneben tretende führungsaufsichtsrechtliche Maßnahme einer Stelle in Rheinland-Pfalz, zumal Führungsaufsicht mangels Entlassung des Klägers aus der Sicherungsverwahrung noch gar nicht eingetreten sei.

5Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat mit Beschluss vom den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Koblenz - Strafvollstreckungskammer - verwiesen. Die Klage sei darauf gerichtet, unter Bezug auf die Konzeption KURS NRW auf Maßnahmen im Rahmen der Entlassung des Klägers aus der Sicherungsverwahrung Einfluss zu nehmen. Im Rahmen der Konzeption KURS NRW nehme das Landeskriminalamt in Fällen mit Bezug zu Stellen außerhalb Nordrhein-Westfalens keine außenwirksame Entscheidung vor, sondern es bitte die zuständige Behörde des anderen Bundeslands lediglich, bestimmte für die Einstufung relevante Unterlagen zu übersenden. Daher sei für eine Entscheidung der Verwaltungsgerichte kein Raum, sondern vielmehr sei nach § 78a Abs. 1 Satz 1, 2 GVG, §§ 68, 68a StGB, § 463 Abs. 2 StPO die Strafvollstreckungskammer zuständig.

6Gegen den Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zur Entscheidung vorgelegt. Dieses hat am die Beschwerde des Klägers gegen den Verweisungsbeschluss zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass vorliegend keine Maßnahmen der Gefahrenabwehr in Rede stünden. Die Einstufung durch das Landeskriminalamt sei nach der Konzeption KURS NRW ergangen, die ausschließlich Personen betreffe, die nach ihrer Entlassung unter Führungsaufsicht stehen, weswegen die Strafvollstreckungskammer und nicht das Verwaltungsgericht zuständig sei.

7Das Landgericht Koblenz hat das Verfahren mit Beschluss vom dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung über den zulässigen Rechtsweg entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO vorgelegt. Es ist der Auffassung, dass der Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf objektiv willkürlich sei, weswegen dessen Bindungswirkung entfallen müsse. Der Kläger wende sich mit seiner Klage ausdrücklich nicht gegen Maßnahmen einer bestehenden Führungsaufsicht, was das Verwaltungsgericht negiere, sondern gegen die KURS NRW-Einstufung des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen. Daher sei ein Anknüpfungspunkt für eine Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gegeben, zumal der Kläger zum Zeitpunkt des Klageantrags noch in der Sicherungsverwahrung untergebracht gewesen sei und es keinen Beschluss zur Ausgestaltung der Führungsaufsicht gegeben habe.

8Die Unterbringung des Klägers in der Sicherungsverwahrung wurde durch Beschluss vom , rechtskräftig seit dem , für erledigt erklärt. Dadurch trat Führungsaufsicht kraft Gesetzes ein. Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken als Vollstreckungsbehörde hat mitgeteilt, dass die Aufnahme des Klägers in das Programm KURS NRW und die Einstufung des Klägers nicht durch sie veranlasst worden sei und es sich aus ihrer Sicht um eine Maßnahme der Gefahrenabwehr handele.

92. Der Generalbundesanwalt hat beantragt, das Verwaltungsgericht Düsseldorf als zuständiges Gericht zu bestimmen. Es könne dahin stehen, ob der Verweisungsbeschluss willkürlich sei, denn dieser sei aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung von § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG wegen Art. 19 Abs. 4 GG vorliegend nicht bindend, weil wirksamen Rechtsschutz gegen die angegriffene Maßnahme hier nur das Verwaltungsgericht Düsseldorf gewähren könne.

II.

10Der Bundesgerichtshof ist entsprechend § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu der Entscheidung über den Zuständigkeitsstreit berufen.

11Die Vorschrift betrifft ihrem Wortlaut und ursprünglichen Sinn nach zwar zunächst nur Kompetenzkonflikte zwischen verschiedenen ordentlichen Gerichten im zivilprozessualen Verfahren. Bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen Gerichten verschiedener Gerichtszweige ist § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO jedoch entsprechend anwendbar, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist, etwa weil es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung von rechtskräftigen Verweisungsbeschlüssen kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten (vgl. , NJW 2016, 3469 mwN; , NJW 2014, 2125; , NZA 1999, 390, 392 mwN; Kissel/Mayer, GVG, 8. Aufl., § 17 Rn. 46). Zuständig für die Zuständigkeitsbestimmung ist derjenige oberste Gerichtshof des Bundes, der zuerst darum angegangen wird (, NJW-RR 2002, 713, 714; , NJW 2016, 3469).

12Diese Voraussetzungen sind gegeben. Einerseits liegt aufgrund der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen ein nicht mehr anfechtbarer Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vor. Andererseits hat das angegangene Landgericht Koblenz seine Zuständigkeit verneint und die Sache zur Entscheidung dem Bundesgerichtshof vorgelegt.

III.

13Zuständig ist das Verwaltungsgericht Düsseldorf.

141. Zwar ist die Verweisung eines Rechtsstreits nach § 17a GVG grundsätzlich unabänderlich und bindend für das verweisende Gericht, sobald sie - wie hier - unanfechtbar geworden ist (, NJW 2014, 2125 mwN). § 17a GVG ist für die Rechtswegstreitigkeit zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit auch unmittelbar anwendbar, weil es sich um verschiedene Gerichtsbarkeiten handelt (Senat, Beschluss vom – 2 ARs 16/05, BGHR GVG § 17a Rechtswegstreitigkeit 1).

152. Die Verweisung des Rechtsstreits durch das Verwaltungsgericht Düsseldorf an das Landgericht Koblenz war jedoch entgegen § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG ausnahmsweise nicht bindend.

16a) Der Bundesgerichtshof hat nicht ausgeschlossen, dass auch bei rechtskräftigen Verweisungen nach § 17a Absatz 2 Satz 3 GVG Ausnahmefälle denkbar sind, in denen die bindende Wirkung entfällt (, NJW 2014, 2125 f.; Beschluss vom – X ARZ 266/01, NJW-RR 2002, 713 mwN). Nach dieser Rechtsprechung kommt eine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung ausnahmsweise dann in Betracht, wenn die Verweisung nach objektiven Maßstäben sachlich unter keinem Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen, daher willkürlich und der Rechtsfehler als extremer Verstoß gegen die den Rechtsweg und seine Bestimmung regelnden materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften zu qualifizieren ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom – X ARZ 172/14, aaO; , NVwZ 1995, 372 mwN) oder wenn der Beschluss jeder Grundlage entbehrt oder dazu führt, dass die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen sich in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat (vgl. , NJW-RR 2002, 713; , NJW 2006, 1371 jew. mwN).

17b) So verhält es sich hier. Nach dem genannten Maßstab liegt in der Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Koblenz eine schwerwiegende, nicht mehr hinnehmbare Verletzung der Rechtswegordnung, die mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht mehr zu vereinbaren ist.

18Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat sich bei seiner Verweisung des Rechtsstreits nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG über die den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten regelnde, maßgebliche Norm des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO hinweggesetzt und ohne nachvollziehbare Begründung eine nach dem vorliegenden Sachverhalt nicht erkennbare und deshalb nicht zu rechtfertigende Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer beim Landgericht Koblenz angenommen.

19Die gegen das Land Nordrhein-Westfalen als Klagegegner (§ 78 VwGO) gerichtete Klage zielt unmissverständlich auf eine Aufhebung einer präventiv-polizeilichen Einstufung des Klägers in eine Risikogruppe durch das Landeskriminalamt und ist ausdrücklich nicht gegen (etwaige) möglicherweise daneben tretende Maßnahmen anderer Justiz(vollzugs)- oder Führungsaufsichtsbehörden gerichtet. Diese Zielrichtung seines Begehrens hat der Kläger auch im behördlichen Verfahren und im Rahmen seiner gerichtlichen Anhörung wiederholt dargelegt. Eine mit Zustimmung des Klägers vorgenommene Klageänderung bzw. Änderung der Passivlegitimation (vgl. § 91 VwGO) liegt nicht vor.

20Die von den Verfahrensbeteiligten aufgeworfene Frage, ob es sich bei der angegriffenen Einstufung in eine Risikogruppe um einen Verwaltungsakt handelt, betrifft nicht die Rechtswegzuständigkeit, sondern wird allenfalls bei der Frage nach der richtigen Klageart oder bei der Begründetheit der Klage relevant.

21Eine die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte begründende abdrängende Sonderzuweisung (etwa §§ 109 f. StVollzG, § 23 EGGVG oder § 13 GVG) ist nach dem Sachverhalt in keiner Weise ersichtlich. So ist die Risikobewertung eines Verurteilten durch ein Landeskriminalamt weder in den gesetzlichen Vorschriften zur Führungsaufsicht nach den §§ 68 ff. StGB geregelt, noch ist das Landeskriminalamt nach dem Sachverhalt von einer anderen im Rahmen der Führungsaufsicht tätigen Behörde (etwa der Führungsaufsichtsstelle, vgl. Art. 295 EGStGB, § 463a StPO) beauftragt worden, für diese eine solche Einstufung vorzunehmen.

22Vielmehr wurde das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen bei der Umsetzung von KURS NRW in eigener Zuständigkeit auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr, hier zur Verringerung des Rückfallrisikos des Klägers, also zur Verhinderung von Straftaten und nicht zu deren Verfolgung, tätig. Davon geht auch die Konzeption KURS NRW selbst aus, nach der es bei der Einstufung von Personen der Zielgruppe in eine der drei Risikogruppen durch die vom Landeskriminalamt einzuberufene Fallkonferenz bei den gesetzlichen Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der Beteiligten für die von ihnen zu treffenden Entscheidungen verbleibt (vgl. Ziff. 7 der Konzeption). Dabei ist das Landeskriminalamt - Zentralstelle KURS - dafür zuständig, die Personen der Zielgruppe zu erfassen, die relevanten Informationen zu bewerten und zu steuern, polizeiliche Maßnahmen zu koordinieren und Informationen aus polizeilichen Datensammlungen und auf Grundlage von § 30 Abs. 2 PolG NRW zu erheben (vgl. Ziff. 6a der Konzeption). Die erhobenen Daten werden nach Maßgabe des PolG NRW in Verbindung mit den Richtlinien über die Kriminalpolizeilichen Sammlungen verarbeitet und gemäß §§ 27, 28 PolG NRW an Polizeibehörden und andere öffentliche Stellen übermittelt (vgl. Ziff. 10 e/f der Konzeption). Darunter fallen auch die Weitergabe der eigenen Gefährdungsbewertung des Landeskriminalamts etwa an Führungsaufsichtsstellen sowie die Übermittlung der zur Gefahrenabwehr erforderlichen Daten an die zuständige Kreispolizeibehörde. Für ein repressives Tätigwerden des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen bei der Gefährdungseinstufung und Datenübermittlung im Rahmen der Konzeption KURS NRW ist daher offenkundig kein Raum.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2016:081216B2ARS196.16.0

Fundstelle(n):
NJW 2017 S. 1689 Nr. 23
EAAAG-41484