BFH Urteil v. - V R 62/10

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken bei der Absenkung der Altersgrenze für die Gewährung von Kindergeld vom 27. auf das 25. Lebensjahr; keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Erlass eines Gerichtsbescheids

Leitsatz

1. Gegen die Absenkung der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG vom 27. auf das 25. Lebensjahr und die dazu getroffene Übergangsregelung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
2. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, Kindergeld unter Berücksichtigung ausbildungsverlängernder Sachverhalte - wie Studienaufenthalte im Ausland - bis zum Abschluss der Ausbildung zu gewähren. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten.
3. Die Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO ist grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen sind. Allein der Umstand, dass gegen einen im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde ergangenen BFH-Beschluss Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist, begründet kein überwiegendes Interesse des Klägers an einer Aussetzung.

Gesetze: GG Art. 3, GG Art. 6, GG Art. 20, GG Art. 103 Abs. 1, EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, EStG § 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1, EStG § 32 Abs. 6, EStG § 33a Abs. 1, EStG § 52 Abs. 40, EStG § 63 Abs. 1 Nr. 1, FGO § 90a, FGO § 96 Abs. 2, FGO § 74

Instanzenzug: , ,

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Gründe

1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Mutter ihres am geborenen Sohnes K. Nach Abschluss der Schulausbildung leistete K vom bis zum Zivildienst. Seit dem Wintersemester 2004/2005 studierte er an einer Universität. Von Oktober 2006 bis September 2007 absolvierte K ein Auslandsstudienjahr.

2 Mit Ausnahme der Monate September 2003 bis Mai 2004 (neun Monate) erhielt die Klägerin Kindergeld für K. Mit Schreiben vom wies die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) darauf hin, dass der Kindergeldanspruch höchstens bis November 2009 bestehe. Daraufhin beantragte die Klägerin, ihr über den hinaus, längstens bis zum Kindergeld zu gewähren, da mit einem Studienabschluss wegen des Auslandsaufenthalts nicht vor dem zu rechnen sei.

3 Mit Bescheid vom setzte die Familienkasse Kindergeld nunmehr zeitlich begrenzt bis zum fest und lehnte den Antrag der Klägerin, ihr für den Zeitraum Dezember 2009 bis September 2010 Kindergeld zu gewähren, ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse als unbegründet zurück. Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen auf die Absenkung der Altersgrenze in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durch Art. 1 Nr. 11 des Steueränderungsgesetzes 2007 vom (BGBl I 2006, 1652).

4 Die Klage vor dem Finanzgericht (FG) hatte teilweise Erfolg. Da K zehn Monate Zivildienst geleistet habe, sei der Klägerin auch für den Monat Dezember 2009 Kindergeld zu gewähren. Im Übrigen sei die Klage unbegründet. K habe im Februar 2008 das 25. Lebensjahr vollendet; gegen die Absenkung der Altersgrenze bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 720 veröffentlicht.

5 Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Revision, die sie auf Verletzung materiellen Rechts stützt. Die Herabsetzung der Altersgrenze in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 sowie Abs. 6 EStG und die Übergangsregelung in § 52 Abs. 40 EStG seien verfassungswidrig. Sie verstießen gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), gegen das Willkürverbot (Art. 3 i.V.m. Art. 20 GG), gegen den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie das Rückwirkungsverbot und das Vertrauensschutzprinzip des Art. 20 GG.

6 Zudem habe das FG seiner Pflicht zur Sachverhaltsermittlung nicht genügt, da es die Herabsetzung der Altersgrenze mit der Möglichkeit des Abzugs von Unterhaltsleistungen nach § 33a Abs. 1 EStG gerechtfertigt habe, ohne zu ermitteln, ob dessen Voraussetzungen im Streitfall erfüllt seien. Wegen einer Erbschaft verfüge K über Vermögen, das die Anwendung des § 33a Abs. 1 EStG ausschließe.

7 Weiter beruft sich die Klägerin darauf, dass § 32 Abs. 6 Satz 1 EStG die steuerliche Freistellung des Existenzminimums nicht mehr gewährleiste und daher gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

8 Der erkennende Senat habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—) verletzt, indem er durch Gerichtsbescheid vom entschieden habe, ohne ihr, der Klägerin, zuvor die Möglichkeit einzuräumen, dazu Stellung zu nehmen, ob sich die Sache für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid i.S. des § 90a FGO eigne.

9 Außerdem habe sich der erkennende Senat im Gerichtsbescheid vom maßgeblich auf das Urteil des III. Senats des (BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176) gestützt, obwohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nach diesem Urteil mehrere Entscheidungen getroffen habe, zu denen der III. Senat noch gar nicht habe Stellung nehmen können.

10 Außerdem sei das Revisionsverfahren auszusetzen, weil in einem vergleichbaren Sachverhalt gegen den (juris) unter dem Az. 2 BvR 646/14 eine Verfassungsbeschwerde anhängig sei.

11 Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das angegriffene Urteil aufzuheben, soweit die Klage abgewiesen wurde, und die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheides vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom zu verpflichten, Kindergeld für K für den Zeitraum Januar 2010 bis September 2010 festzusetzen.

12 Die Familienkasse, die ihre mit Schriftsatz vom eingelegte Revision mit Schreiben vom zurückgenommen hat, beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

13 Das Verfahren war durch Beschluss vom III R 24/10 bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 2875/10 gegen das BFH-Urteil in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 ausgesetzt worden.

14 II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Klägerin ab Januar 2010 kein Anspruch auf Kindergeld zusteht.

15 1. K hat im Februar 2009 das 25. Lebensjahr vollendet und damit die Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG überschritten. Da er Zivildienst abgeleistet hatte, war er noch für weitere zehn Monate, d.h. bis einschließlich Dezember 2009, als Kind zu berücksichtigen (§ 32 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 EStG). Seit Januar 2010 kann er mithin nicht mehr nach § 32 Abs. 1 und Abs. 4 i.V.m. § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG als Kind berücksichtigt werden.

16 2. Gegen die Absenkung der Altersgrenze vom 27. auf das 25. Lebensjahr und die dazu getroffene Übergangsregelung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Senat schließt sich der Auffassung des III. Senats im Urteil in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 (vgl. auch , BFH/NV 2013, 1174; vom XI R 44/11, BFH/NV 2013, 1409) an und verweist zur weiteren Begründung auf dieses Urteil. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde hat das (nicht veröffentlicht) nicht angenommen.

17 3. Die gegen das Urteil in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 geäußerten Einwendungen vermögen nicht zu überzeugen. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, Kindergeld unter Berücksichtigung ausbildungsverlängernder Sachverhalte —wie Studienaufenthalte im Ausland— bis zum Abschluss der Ausbildung zu gewähren. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten (vgl. BFH-Urteil in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176, m.w.N.).

18 4. Die Klägerin hat keine neuen Gesichtspunkte vorgetragen, die Veranlassung dazu geben, die bisherige Rechtsprechung des BFH in Frage zu stellen. Soweit die Klägerin geltend macht, das Urteil des BFH in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 verkenne die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes und habe die neuere Rechtsprechung des BVerfG, insbesondere die BVerfG-Entscheidungen vom 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05 (BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76), 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06 (BVerfGE 127, 31), 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05 (BVerfGE 127, 61, BStBl II 2011, 86), vom 1 BvL 12/07 (BVerfGE 127, 224), und vom 1 BvL 6/07 (BVerfGE 132, 302, BStBl II 2012, 932) nicht berücksichtigen können, führt dies zu keiner anderen Beurteilung.

19 a) Das BVerfG hat in Kenntnis der von der Klägerin zitierten BVerfG-Entscheidungen durch Beschluss vom im Verfahren 2 BvR 2875/10 die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des BFH in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 nicht zur Entscheidung angenommen (§§ 93a, 93b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht).

20 b) Soweit die Klägerin eine neuere Entwicklung in der Rechtsprechung des BVerfG hinsichtlich des Rückwirkungsverbotes geltend macht, ist darauf hinzuweisen, dass das BVerfG in seinen Beschlüssen in BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76 Rz 60 f.; in BVerfGE 127, 61, BStBl II 2011, 86 Rz 49 und in BVerfGE 127, 31 Rz 66 an der Unterscheidung zwischen echter und unechter Rückwirkung festgehalten hat. Zudem beruhen die Rechtssätze, worauf der XI. Senat des BFH in seinem Beschluss vom XI B 15/13 (juris) zutreffend hingewiesen hat, dass der Gesetzgeber, soweit er künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maß Rechnung tragen muss, die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen der Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage abzuwägen sind sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein muss, auf ständiger Rechtsprechung des BVerfG (vgl. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 132, 302, BStBl II 2012, 932 Rz 42 f., m.w.N.). Auch insoweit ist nicht erkennbar, dass unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten eine von der BFH-Entscheidung in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 abweichende Auffassung geboten sein könnte.

21 5. Das FG hat nicht gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO) verstoßen. Die Sachaufklärungspflicht des FG dient dazu, die Spruchreife der Klage herbeizuführen. Dementsprechend hat das Gericht nur das aufzuklären, was aus seiner materiell-rechtlichen Sicht entscheidungserheblich ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFH/NV 2012, 1321, Leitsatz 1 und Nr. 1). Das hat das FG getan.

22 6. Der erkennende Senat hat im Revisionsverfahren nicht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) verletzt. Der Erlass eines Gerichtsbescheides verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör auch dann nicht, wenn das Gericht den Beteiligten zuvor keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat, ob durch Gerichtsbescheid entschieden werden soll, denn die Beteiligten haben durch die Möglichkeit, mündliche Verhandlung zu beantragen, hinreichend Gelegenheit, rechtlich gehört zu werden (Beermann/Gosch, § 90a FGO Rz 20; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 90a FGO Rz 39; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 90a FGO Rz 4). Selbst wenn man mit der Gegenmeinung (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 90a Rz 6), der der Senat nicht folgt, einen Verfahrensfehler annehmen würde, wäre dieser durch den Antrag auf mündliche Verhandlung geheilt. Denn gemäß § 90a Abs. 3 FGO gilt der Gerichtsbescheid als nicht ergangen, wenn —wie hier— rechtzeitig Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt wird.

23 7. Der Senat ist an einer Entscheidung nicht durch die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 646/14 gegen den Beschluss des XI. Senats vom XI B 15/13 (juris) gehindert gewesen, weil keine beachtlichen Gründe vorlagen, die die Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO rechtfertigen. Die Aussetzung des Verfahrens ist grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten gegeneinander abzuwägen sind (BFH-Beschlüsse vom VIII B 170/06, BFH/NV 2008, 580; vom XI B 126/01, BFH/NV 2003, 189). Allein der Umstand, dass gegen den BFH-Beschluss XI B 15/13 (juris) Verfassungsbeschwerde eingelegt worden ist, begründet kein überwiegendes Interesse der Klägerin an einer Aussetzung (vgl. BFH-Beschlüsse vom VIII B 170/06, BFH/NV 2008, 580; vom XI B 97/05, BFH/NV 2006, 1109). Zum einen ist Gegenstand eines Beschlusses im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde in erster Linie die Frage, ob Zulassungsgründe i.S. des § 115 Abs. 2 FGO vorliegen und in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Form dargelegt worden sind. Zum anderen hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Absenkung der Altersgrenze dem BVerfG bereits durch die Verfassungsbeschwerde gegen das BFH-Urteil in BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176 vorgelegen und ist vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen worden. Unter diesen Voraussetzungen war eine Aussetzung des vorliegenden Verfahrens nach § 74 FGO nicht geboten.

24 8. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 2, 136 Abs. 2 FGO. Mit Blick auf die Rücknahme der Revision durch die Familienkasse sind die Kosten nach Zeitabschnitten zu verteilen (vgl. , BFHE 192, 176, BStBl II 2000, 449, m.w.N.).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2014 S. 1210 Nr. 8
FAAAE-66329