BFH Urteil v. - VI R 67/11

Vertrauenstatbestand bei Rückforderung des Kindergeldes; Anspruch auf Kindergeld bei gleichzeitigem Anspruch auf irische Familienleistungen

Leitsatz

1. Zur Gewährung eines Vertrauensschutzes im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG bedarf es eines Verhaltens der Familienkasse, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen kann, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle. Dem Verhalten der Familienkasse muss die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht. Die Weiterzahlung des Kindergeldes allein reicht nicht zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes aus.
2. Besteht ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach irischem Recht kann die Konkurrenz zu einem Kindergeldanspruch statt nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG auch abweichend davon aufzulösen sein.

Gesetze: EStG § 70 Abs. 2, EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 63 Abs. 1, EStG § 65 Abs. 1

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Streitig ist, ob die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist und ob für ein im Inland wohnhaftes Kind ein Kindergeldanspruch auch dann besteht, wenn für das Kind zugleich nach irischem Recht Familienleistungen gewährt werden.

2 Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit und wohnt im Inland. In ihrem Haushalt wohnt seit September 2004 ihr während des Streitzeitraums Dezember 2006 bis August 2008 minderjähriges Enkelkind, für das ihr das Sorgerecht zusteht.

3 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gewährte der Klägerin für das Enkelkind seit September 2004 Kindergeld. Auch die in Irland wohnende Kindesmutter erhielt für das Kind von dem für die Zahlung irischer Familienleistungen zuständigen Träger Familienleistungen in der Zeit von Dezember 2006 bis August 2008. Nachdem dieser Träger die Familienkasse über die Gewährung der irischen Familienleistungen informiert hatte, hob diese die bisherige Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum auf. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, der Kindesmutter stehe im Streitzeitraum aufgrund einer Erwerbstätigkeit in Irland ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach irischem Recht zu, sodass der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld ruhe. Das daher zu Unrecht gewährte Kindergeld sei zurückzuzahlen.

4 Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage hat das —veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 627— stattgegeben. Zwar gelte zugunsten der Klägerin keine gemeinschaftsrechtliche Prioritätsregel. Die Familienkasse sei jedoch nach Treu und Glauben an einer Aufhebung der Kindergeldfestsetzung gehindert.

5 Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

6 Sie beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7 Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

8 II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die Rechtsausführungen des FG, wonach der Rückforderung des Kindergeldes der Grundsatz von Treu und Glauben entgegenstehe, halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die finanzgerichtlichen Feststellungen erlauben keine abschließende Prüfung, ob der Klägerin für den Streitzeitraum ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld zusteht.

9 1. Eine Aufhebung oder Änderung der Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist vorliegend nicht nach Treu und Glauben ausgeschlossen.

10 Ob im Rahmen des § 70 Abs. 2 EStG unter bestimmten Voraussetzungen Vertrauensschutz gewährt werden kann, lässt der Senat dahinstehen (ebenso etwa , BFH/NV 2004, 16; Senatsbeschluss vom VI B 215/98, BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231). Denn die Familienkasse hat vorliegend keinen Vertrauenstatbestand gesetzt.

11 a) Dazu bedarf es eines Verhaltens der Familienkasse, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen kann, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden solle (vgl. , BFHE 203, 472, BStBl II 2004, 123; vom III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722; vom III R 82/08, BFHE 235, 336, BStBl II 2012, 734). Insoweit ist ein besonders eindeutiges Verhalten der Familienkasse zu fordern, dem zu entnehmen ist, dass sie auch nach Prüfung des Falles von einem Fortbestehen des Kindergeldanspruchs ausgeht und ein anderer Eindruck bei dem Kindergeldempfänger nicht entstehen kann. Dem Verhalten der Familienkasse muss also die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht (vgl. , BFH/NV 2005, 499, m.w.N.).

12 b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Es ist schon nicht erkennbar, durch welches Verhalten die Familienkasse einen Vertrauenstatbestand gegenüber der Klägerin geschaffen haben soll. Die Familienkasse hat lediglich das Kindergeld auf das ihr von der Klägerin benannte Konto geleistet. Außerdem reicht die Weiterzahlung des Kindergeldes —selbst bei Kenntnis der Behörde von Umständen, die zum Wegfall des Kindergeldes führen— allein nicht zur Schaffung eines Vertrauenstatbestandes aus (vgl. , BFH/NV 2005, 1486). Die übrigen vom FG angeführten (vermeintlich) besonderen Umstände stellen keine Gesichtspunkte dar, die ein Vertrauen hätten begründen können. Denn sie haben ihren Ursprung nicht in einem Verhalten der Familienkasse gegenüber der Klägerin und betreffen damit das zwischen diesen Beteiligten bestehende Steuerschuldverhältnis nicht.

13 2. Da die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 EStG mithin hier nicht von vornherein nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist, ist entgegen der Vorentscheidung eine Prüfung erforderlich, ob und gegebenenfalls inwieweit der Klägerin ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld zusteht.

14 a) Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG. Denn sie hatte nach den den Senat bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG einen Wohnsitz im Inland und das Enkelkind, für das sie Kindergeld beantragt hat, in ihren Haushalt aufgenommen.

15 b) Der Kindergeldanspruch könnte jedoch nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein.

16 aa) Der Ausschluss des Kindergeldanspruchs gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG greift, wenn für ein Kind Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären und diese Leistungen dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind. Allerdings kann der Senat aufgrund fehlender Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob und gegebenenfalls für welche Monate des Streitzeitraums für das Enkelkind nach irischem Recht tatsächlich ein Anspruch auf Familienleistungen bestand und ob diese dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen sind.

17 bb) Es ist schon zweifelhaft, ob der Kindesmutter —wie die Familienkasse meint— hier nach irischem Recht Familienleistungen zu gewähren waren.

18 Denn nach dem —den Senat nicht bindenden— Schreiben des Bundeszentralamts für Steuern vom St II 2-S 2280-PB/11/00014 (BStBl I 2012, 18) verlangt das irische Recht für einen Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen an die Mutter zumindest die Aufnahme des Kindes in ihren Haushalt. Dies ist aufgrund der Feststellungen des FG vorliegend fraglich.

19 Der irische Träger für die Gewährung von Familienleistungen hat insoweit auch nicht mit Tatbestandswirkung festgestellt, der Kindesmutter stehe ein Anspruch auf Familienleistungen nach irischem Recht zu. Eine solche Tatbestandswirkung, derentwegen die Familienkasse die Entscheidung über das Bestehen eines Kindergeldanspruchs zu übernehmen hätte, setzt jedenfalls die Entscheidung der für kindergeldähnliche Leistungen zuständigen Behörde voraus, dass für das Kind ein anderweitiger Anspruch besteht (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 65 EStG Rz 6; Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 65 Rz A 22, jeweils m.w.N.; zur Tatbestandswirkung allgemein vgl. etwa , BFHE 236, 539, BStBl II 2013, 226). An der Mitteilung einer solchen Entscheidung des für die Gewährung irischer Familienleistungen zuständigen Trägers fehlt es. Denn nach den mit zulässigen Revisionsrügen nicht angegriffenen und daher den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG stellte der Träger hier selbst in Frage, ob die Kindesmutter einen solchen Anspruch hatte und teilte in diesem Zusammenhang lediglich die Höhe der von ihr geleisteten Zahlungen mit.

20 c) Sollte ein Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen nach irischem Recht bestehen, könnte die Konkurrenz zu dem Kindergeldanspruch statt nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG auch abweichend davon aufzulösen sein.

21 aa) Dies könnte zum einen folgen aus der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (VO Nr. 1408/71) des Rates vom zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern sowie durch die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1 vom ) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom (Amtsblatt der Europäischen Union 2005 Nr. L 117, S. 1 vom ; zur Anwendung der VO Nr. 1408/71 sowie der VO Nr. 574/72 vgl. im Einzelnen , BFHE 238, 120, BStBl II 2013, 24; vom III R 76/10, BFHE 238, 87; jeweils m.w.N.).

22 bb) Zum anderen könnte unter Beachtung der vom Gerichtshof der Europäischen Union in den Urteilen vom C-352/06, Bosmann (Slg. 2008, I-3827), vom C-611/10, Hudzinski und C-612/10, Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999) aufgestellten Grundsätze Differenzkindergeld zu gewähren sein (vgl. dazu auch das Senatsurteil vom heutigen Tage VI R 68/11, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2014 S. 20 Nr. 1
BAAAE-50002