BAG Urteil v. - 5 AZR 886/11

Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Leitsatz

Die Ausübung des dem Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG (juris: EntgFG) eingeräumten Rechts, von dem Arbeitnehmer die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer schon vom ersten Tag der Erkrankung an zu verlangen, steht im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers.

Gesetze: § 5 Abs 1 S 2 EntgFG, § 5 Abs 1 S 3 EntgFG

Instanzenzug: Az: 8 Ca 2519/11 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 3 Sa 597/11 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten über die Berechtigung der Beklagten, von der Klägerin die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer schon von dem ersten Tag der Erkrankung an zu verlangen.

Die Klägerin ist bei der beklagten Rundfunkanstalt als Redakteurin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag des Westdeutschen Rundfunks Köln vom idF vom (fortan: MTV) Anwendung, der in § 9 Abs. 2 bestimmt:

3Die Klägerin hatte für den einen Dienstreiseantrag gestellt, dem ihr Vorgesetzter nicht entsprach. Eine nochmalige Anfrage der Klägerin wegen der Dienstreisegenehmigung am wurde abschlägig beschieden. Am meldete sich die Klägerin krank und erschien am Folgetag wieder zur Arbeit. Daraufhin forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom auf, „bei zukünftigen Krankheitsfällen schon am ersten Tag der Krankmeldung einen Arzt aufzusuchen und ein entsprechendes Attest zu liefern“.

4Mit der am beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat sich die Klägerin gegen diese Anweisung gewandt und die Auffassung vertreten, das Verlangen der Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits ab dem ersten Tag der Erkrankung bedürfe einer sachlichen Rechtfertigung. Zudem stehe § 9 Abs. 2 MTV einem derartigen Verlangen entgegen. Überdies würde im Hause der Beklagten von § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nur Gebrauch gemacht, wenn auffällige Fehlzeiten vorlägen (wie zB jede zweite Woche, immer am Montag oder Freitag, immer an Brückentagen, immer zu bestimmten disponierten Diensten oder sonstigen disponierten Terminen, bei Suchtkranken).

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

6Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, das Verlangen nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bedürfe weder einer Begründung noch eines Missbrauchsverdachts. Unabhängig davon hätten hinreichende Zweifel an einer Arbeitsunfähigkeit der Klägerin am bestanden. Eine abschließende Regelung zur Handhabung des § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bestehe ebenso wenig wie eine betriebliche Übung.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter.

Gründe

8Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Recht abgewiesen.

9I. Ob und unter welchen Voraussetzungen der Arbeitnehmer über die Feststellung hinaus, nicht zur Befolgung einer Weisung des Arbeitgebers verpflichtet zu sein, den Widerruf einer Weisung des Arbeitgebers im Sinne einer - wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat - Aufhebung der Maßnahme für die Zukunft verlangen kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung des Senats (zum Widerruf unzutreffender oder abwertender Äußerungen, vgl.  - BAGE 50, 202). Denn das in dem Schreiben der Beklagten vom geäußerte Verlangen nach Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon für und ab dem ersten Tag einer Erkrankung ist von § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG gedeckt und verstößt weder gegen § 9 Abs. 2 MTV noch gegen eine betriebliche Übung.

101. Dauert eine Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen. Nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ist der Arbeitgeber jedoch berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen. Die Regelung eröffnet dem Arbeitgeber nicht nur das Recht der zeitlich früheren Anforderung, sondern daneben das Recht, den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung auch für Zeiten zu verlangen, die nicht länger als drei Tage andauern, zB auch für eine eintägige Arbeitsunfähigkeit (allgemeine Ansicht, vgl. nur  - zu II 2 e aa der Gründe, BAGE 86, 357; - 1 ABR 3/99 - zu B I 2 b aa der Gründe, BAGE 93, 276; ErfK/Dörner/Reinhard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; HWK/Schliemann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36 - jeweils mwN).

11a) Das Verlangen nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bedarf weder einer Begründung noch eines sachlichen Grundes oder gar besonderer Verdachtsmomente auf Vortäuschung einer Erkrankung in der Vergangenheit (so auch die ganz überwiegende Meinung im Schrifttum, vgl. etwa ErfK/Dörner/Reinhard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; HWK/Schliemann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 14. Aufl. § 98 Rn. 121; Schmitt EFZG 7. Aufl. § 5 Rn. 72 - jeweils mwN). Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG, der keinerlei einschränkende Voraussetzungen nennt, und wird bestätigt durch die Entstehungsgeschichte der Norm. Während im ursprünglichen Entwurf der Vorschrift noch vorgesehen war, dass alle Arbeitnehmer ein ärztliches Attest bereits vom ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit an vorzulegen hätten (vgl. BT-Drucks. 12/5263 S. 4 und S. 13 f.), geht die Gesetz gewordene Fassung auf eine Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zurück. Die Änderung sollte einer möglichen Kostensteigerung bei den Krankenkassen entgegenwirken, zugleich aber der Arbeitgeber „in jedem Fall“ die Möglichkeit haben, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab dem ersten Tag zu verlangen (BT-Drucks. 12/5798 S. 26).

12Entgegen der Auffassung der Revision ist § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG auch keine Ausnahmevorschrift zu Satz 2. Dass letzterer anzuwenden ist, wenn der Arbeitgeber von seinem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG keinen Gebrauch gemacht hat, lässt weder rechtlich noch tatsächlich den Schluss auf ein Regel-Ausnahmeverhältnis zu (vgl.  - zu II 2 c bb der Gründe, BAGE 86, 357).

13Die Voraussetzungslosigkeit des Verlangens nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG bestätigt auch § 275 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b iVm. Abs. 1a SGB V. Danach kann der Arbeitgeber verlangen, dass die Krankenkasse eine gutachterliche Stellungnahme des medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit einholt, allerdings nur „zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit“. Eine derartige einschränkende Voraussetzung fehlt in § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG (vgl. HWK/Schliemann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36).

14b) Die Ausübung des dem Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG eingeräumten Rechts steht im nicht gebundenen Ermessen des Arbeitgebers. Das ergibt sich aus dem Fehlen von Ausübungsvoraussetzungen in der Norm selbst und wird wiederum bestätigt durch die Entstehungsgeschichte. Soll der Arbeitgeber „in jedem Fall“ die Möglichkeit haben, eine Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit ab dem ersten Tag der Erkrankung zu verlangen (Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 12/5798 S. 26; vgl. dazu auch  - zu B I 2 b dd (2) der Gründe, BAGE 93, 276; - 5 AZR 726/96 - zu II 2 d der Gründe, BAGE 86, 357), verbietet es sich, das Verlangen des Arbeitgebers einer Billigkeitskontrolle zu unterwerfen (so aber HWK/Schliemann 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 36; Treber EFZG 2. Aufl. § 5 Rn. 36; Staudinger/Oetker BGB Bearbeitung 2002 § 616 Rn. 316; P. Feichtinger in Feichtinger/Malkmus 2. Aufl. § 5 EFZG Rn. 43, 45; Vogelsang EFZG Rn. 300; DFL/Vossen 5. Aufl. § 5 EFZG Rn. 13; Schoof in Kittner/Zwanziger/Deinert Arbeitsrecht 6. Aufl. § 39 Rn. 236; im Ergebnis wie hier ErfK/Dörner/Reinhard 13. Aufl. § 5 EFZG Rn. 12; Schaub/Linck Arbeitsrechts-Handbuch 14. Aufl. § 98 Rn. 121; AnwK-ArbR/Sievers 2. Aufl. § 5 EFZG Rn. 27). Anderenfalls wäre der Arbeitgeber für seine Maßnahme entgegen § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG einem Begründungszwang ausgesetzt.

15c) Ihre Grenze findet das Verlangen nach einer Vorlage der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon ab dem ersten Tag einer Erkrankung an den allgemeinen Schranken jeder Rechtsausübung, insbesondere darf das Verlangen nicht schikanös oder willkürlich sein und weder gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen Diskriminierungsverbote verstoßen (vgl. Schmitt EFZG 7. Aufl. § 5 Rn. 87 mwN).

16aa) Die Anweisung der Beklagten vom erfolgte nicht ohne jeden Anlass. Der enge zeitliche Zusammenhang zwischen der (nochmaligen) Ablehnung einer Dienstreise für den und der plötzlichen Erkrankung der Klägerin just an diesem Tag schließt Schikane oder Willkür aus, zumal die Klägerin die näheren Umstände der eintägigen Erkrankung nicht erläutert hat.

17bb) Der Vortrag der Klägerin rechtfertigt nicht die Annahme, die Beklagte habe gegen den gewohnheitsrechtlich anerkannten arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der die sachfremde Schlechterstellung einzelner Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage verbietet, verstoßen. Die Klägerin hat keinen dem ihren vergleichbaren „Fall“ benannt, den die Beklagte anders als bei der Klägerin nicht zum Anlass genommen habe, von ihrem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG Gebrauch zu machen. Anhaltspunkte für eine Diskriminierung etwa wegen ihres Geschlechts oder ihres Alters hat die Klägerin nicht vorgebracht.

182. § 9 Abs. 2 MTV schließt das Recht der Beklagten aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nicht aus.

19a) Durch Tarifvertrag kann zugunsten des Arbeitnehmers eine von § 5 EFZG abweichende Regelung der Anzeige- und Nachweispflichten bei Arbeitsunfähigkeit getroffen werden, § 12 EFZG. Eine solche Abweichung bedarf aber einer klaren Regelung (vgl.  - Rn. 12, BAGE 133, 101).

20b) Dieser Anforderung genügt § 9 Abs. 2 MTV nicht.

21§ 9 Abs. 2 Satz 1 MTV entspricht in der Fassung vom der Ursprungsfassung vom , die identisch ist mit der Fassung vom , die wiederum wörtlich zurückgeht auf § 20 Abs. 1 Satz 1 des Manteltarifvertrags des Nordwestdeutschen Rundfunks - dem Rechtsvorgänger der Beklagten - vom . Die Regelung zur Beibringung eines ärztlichen Attests besteht bei der Beklagten mithin seit diesem Zeitpunkt inhaltlich unverändert. Hätte durch Tarifvertrag eine abweichende Regelung zum Recht des Arbeitgebers aus dem weitaus später in Kraft getretenen § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG getroffen werden sollen, hätten die Tarifvertragsparteien auf die veränderte Gesetzeslage reagieren und eine ausdrückliche, das Verlangen des Arbeitgebers auf eine frühere Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausschließende Regelung treffen müssen. Das bloße „Schweigen“ des Tarifvertrags genügt hierfür nicht.

223. Die Beklagte hat sich bei der Ausübung ihres Rechts aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nicht durch eine betriebliche Übung gebunden.

23a) Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, dass von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung über das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte ( - Rn. 20 mwN, BAGE 133, 337).

24b) Es kann dahingestellt bleiben, ob eine Selbstbeschränkung des Arbeitgebers bei der Ausübung des Rechts aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG überhaupt einer betrieblichen Übung dergestalt zugänglich ist, dass sich der Arbeitgeber auf Dauer bindet und den Arbeitnehmern ein Anspruch erwächst, nicht bzw. nur in bestimmten Fallkonstellationen einer Verpflichtung nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG unterworfen zu werden. Denn die für das Bestehen einer ihr günstigen betrieblichen Übung darlegungspflichtige Klägerin (vgl. zur Darlegungslast  - Rn. 20, NZA 2013, 40) hat keine Mitteilung oder sonstige Verhaltensweise der Beklagten an bzw. gegenüber der Belegschaft vorgetragen, aus der die Beschäftigten nach Treu und Glauben schließen durften, die Beklagte wolle von dem Recht aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG nur unter bestimmten Voraussetzungen Gebrauch machen. Aus den vom Betriebsarzt der Klägerin beispielhaft mitgeteilten „Anlassfällen“ ergibt sich eine entsprechende Verlautbarung der Beklagten an die Belegschaft jedenfalls nicht.

II. Die Klägerin hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BB 2012 S. 3007 Nr. 48
BB 2013 S. 563 Nr. 10
DB 2013 S. 15 Nr. 9
DB 2013 S. 15 Nr. 9
DB 2013 S. 464 Nr. 9
DStR 2012 S. 13 Nr. 47
GmbHR 2012 S. 337 Nr. 24
NJW 2013 S. 892 Nr. 12
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2012 S. 3842
NZA 2012 S. 8 Nr. 22
StBW 2012 S. 1196 Nr. 25
ZIP 2012 S. 6 Nr. 47
EAAAE-30451