BGH Beschluss v. - V ZB 80/12

Zwangsversteigerungsverfahren: Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses wegen Suizidgefahr des eine ärztliche Behandlung ablehnenden Schuldners

Gesetze: § 765a ZPO, Art 2 Abs 2 GG

Instanzenzug: LG Meiningen Az: 4 T 134/11vorgehend AG Sonneberg Az: K 92/09

Gründe

I.

1Die Beteiligte zu 3 betreibt die Zwangsversteigerung des im Eingang dieses Beschlusses genannten Grundstücks der Schuldner (Beteiligte zu 1 und 2); dieses ist mit einem von den Schuldnern bewohnten Haus bebaut. Das Vollstreckungsgericht hat dem Beteiligten zu 4 unter Zurückweisung eines Antrags der Schuldnerin, das Verfahren wegen einer bei ihr bestehenden Suizidgefahr gemäß § 765a ZPO einstweilen einzustellen, den Zuschlag auf dessen Meistgebot erteilt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Schuldnerin hat das Beschwerdegericht nach Einholung eines psychiatrischen Fachgutachtens zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde möchte die Schuldnerin weiterhin die vorläufige Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens und die Versagung des Zuschlags erreichen.

II.

2Das Beschwerdegericht meint, ein Schuldner könne keinen Vollstreckungsschutz beanspruchen, wenn er seine psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnehme, obwohl er es in der Hand habe, die Erkrankung behandeln zu lassen. So liege es hier. Zwar habe der Sachverständige bei der Schuldnerin eine psychische Erkrankung in Form einer mittelgraden bis schweren depressiven Episode diagnostiziert. Seine Einschätzung, das von der Zwangsversteigerung betroffene Haus sei die Basis für die berufliche Existenz der Schuldnerin, werde aber nicht geteilt. Entsprechendes gelte für die Angaben der Schuldnerin, das Eigenheim sei Bestandsgrundlage ihrer Ehe, und sie könne ihre beiden Hunde nur im eigenen Haus halten. Die Schuldnerin überhöhe die Bedeutung des Eigenheims als Lebens- und Existenzgrundlage. Eine ärztliche Behandlung könne nur zum Ziel haben, die Bedeutung des Hauses auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen und es der Schuldnerin zu ermöglichen, sich mit dessen Verlust abzufinden. Dies sei offenbar auch der Therapieansatz eines von der Schuldnerin aufgesuchten Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie gewesen. Die Schuldnerin habe die Therapie jedoch im Dezember 2011 abgebrochen. Einen anderen Arzt habe sie nicht aufgesucht, obwohl in dem Fachgutachten von September 2011 der dringende Behandlungsbedarf ausdrücklich und eindeutig formuliert worden sei. Bei ihrer Anhörung habe sie sich nicht als behandlungsbedürftig bezeichnet und angegeben, es gehe ihr gut, solange sie nicht an den drohenden Verlust des Hauses denke. Angesichts der fehlenden Therapieeinsicht sei eine Auflage, eine Therapie (erneut) aufzunehmen, nicht erfolgversprechend.

III.

3Die nach § 96 ZVG i.V.m. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

41. a) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Beschwerdegericht davon aus, dass die aus einer Zwangsversteigerung resultierende ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Schuldners oder eines nahen Angehörigen gemäß § 765a ZPO zu einer einstweiligen Einstellung des Verfahrens und damit im Beschwerdeverfahren zu der Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses führen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gefahr der Selbsttötung sich erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat oder ob sie schon zuvor latent vorhanden war und sich durch den Zuschlag im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 215/09, NJW-RR 2011, 423 Rn. 8).

5b) Ferner hat es beachtet, dass Beweisangeboten des Schuldners zu seinem Vorbringen, ihm drohten durch die Fortsetzung des Vollstreckungsverfahrens schwerwiegende Gesundheitsbeeinträchtigungen, im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG besonders sorgfältig nachzugehen ist (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 215/09, aaO, Rn. 11) und deshalb ein fachärztliches Gutachten zu der von der Schuldnerin behaupteten Suizidgefahr eingeholt.

62. Von Rechtsfehlern beeinflusst sind jedoch die Erwägungen, mit denen eine Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin verneint wird.

7a) Dabei geht der Senat davon aus, dass das Beschwerdegericht auf der Grundlage des eingeholten fachärztlichen Gutachtens ernsthaft mit einem Suizid der Schuldnerin für den Fall rechnet, dass der Zuschlagsbeschluss rechtskräftig wird und die Schuldner damit ihr Eigentum an dem von ihnen bewohnten Haus endgültig verlieren. Dass es der Einschätzung des Gutachters nicht folgt, die Schuldnerin müsse bei einem Verlust des Hauses ihren Beruf aufgeben, steht dem nicht entgegen. Denn dies betrifft ersichtlich nur die objektiven Folgen eines Eigentumsverlustes, nicht aber deren subjektive Wahrnehmung durch die Schuldnerin. Dem Hinweis des Berufungsgerichts, die Schuldnerin überhöhe die Bedeutung des Eigenheims als Lebens- und Existenzgrundlage, lässt sich entnehmen, dass es die Einschätzung des Sachverständigen nicht in Frage stellen wollte, die Schuldnerin werde durch den Verlust des Hauses voraussichtlich in eine schwere emotionale Krise stürzen mit einem enormen Anstieg des Risikos der Ausführung eines Suizidversuchs bzw. Suizids. Andernfalls wäre der angefochtene Beschluss schon wegen rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung aufzuheben. Das Beschwerdegericht wäre dann nämlich ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen des von ihm gerade wegen fehlender medizinischer Sachkunde beauftragten Gutachters zu der psychischen Verfassung der Schuldnerin und der sich daraus ergebenden Suizidgefahr abgewichen (vgl. , NJW 1997, 1446 sowie Senat, Urteil vom - V ZR 11/80, NJW 1981, 2578).

8b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts entfällt die Schutzbedürftigkeit der Schuldnerin nicht deshalb, weil sie "ihre psychische Erkrankung und eine daraus resultierende Selbstmordgefährdung hinnimmt". Eine solche Sichtweise wird dem in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Gebot zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht gerecht. Die Unfähigkeit, aus eigener Kraft oder mit zumutbarer fremder Hilfe die Konfliktsituation situationsangemessen zu bewältigen, verdient auch dann Beachtung, wenn ihr kein Krankheitswert zukommt (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 215/09, NJW-RR 2011, 423 Rn. 9). Erst recht gilt dies, wenn die Passivität, was hier in Betracht kommt, Teil des Krankheitsbildes ist. Sie enthebt das Vollstreckungsgericht deshalb nicht von der notwendigen umfassenden, an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände, die sowohl den dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der anderen Beteiligten des Zwangsversteigerungsverfahrens Rechnung trägt. Im Rahmen dieser Abwägung ist zugleich zu prüfen, ob der Gefahr für das Leben des Schuldners auf andere Weise als durch die Aufhebung des Zuschlagsbeschlusses und eine vorübergehende Einstellung der Zwangsvollstreckung begegnet werden kann (vgl. BVerfG, NJW-RR 2012, 393, 395 Rn. 52).

9Eine solche - die ernsthafte Gefahr eines Suizids der Schuldnerin in Rechnung stellende - Abwägung enthält der angefochtene Beschluss nicht. Sie ist auch nicht im Hinblick auf die generalisierende Annahme des Beschwerdegerichts entbehrlich, die Gläubigerinteressen würden unangemessen beeinträchtigt, wenn die Zwangsversteigerung aufgrund eines Untätigbleibens des Schuldners nach (attestierter) Selbstmordgefährdung auf unabsehbare Zeit blockiert wäre. Die im Rahmen von § 765a ZPO erforderliche Abwägung kann nämlich nicht abstrakt erfolgen, sondern muss stets anhand der Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall betroffenen Interessen und Möglichkeiten der Verfahrensgestaltung vorgenommen werden (vgl. BVerfG, NZM 2005, 657, 659; NJW 2004, 49 zu II. 1. b). In besonders gelagerten Einzelfällen kann sie deshalb dazu führen, dass die Vollstreckung für einen längeren Zeitraum und - in absoluten Ausnahmefällen - auf unbestimmte Zeit einzustellen ist (vgl. BVerfG, NZM 2005, 657, 658).

IV.

101. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben; er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

11a) Es werden zunächst Feststellungen dazu zu treffen sein, ob aufgrund des Eigentumsverlusts durch den Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses (und nicht erst aufgrund drohender Zwangsräumung; vgl. BVerfG, NJW-RR 2012, 393, 395 Rn. 52 u. 396 Rn. 62) ernsthaft mit einem Suizid der Schuldnerin zu rechnen ist.

12b) Ist dies zu bejahen, muss geprüft werden, ob der Gefahr auf andere Weise als durch die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann, zum Beispiel durch Einschaltung der Ordnungsbehörden und des Betreuungsgerichts mit dem Ziel einer einstweiligen Unterbringung der Schuldnerin (vgl. näher Senat, Beschluss vom - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719; Beschluss vom - V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649; BVerfG, aaO., Rn. 68; Schmidt-Räntsch, ZfIR 2011, 849, 852 ff.). Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ist es hiervon nicht deshalb entbunden, weil die Schuldnerin anwaltlich vertreten ist und weil das Betreuungsgericht bislang - möglicherweise im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten im Vollstreckungsverfahren - (noch) keinen Anlass zum Einschreiten gesehen hat. Eine anwaltliche Vertretung des Grundrechtsträgers entbindet die staatlichen Stellen nicht von ihren sich aus der Verfassung ergebenden Schutzpflichten. Der Verweis auf die für den Lebensschutz primär zuständigen Behörden und Gerichte ist verfassungsrechtlich nur tragfähig, wenn diese entweder Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen oder aber eine erhebliche Suizidgefahr gerade für das diese Gefahr auslösenden Moment (Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses oder Räumung) nach sorgfältiger Prüfung abschließend verneint haben (vgl. BVerfG, NJW-RR 2012, 393, 397 Rn. 68).

13c) Andernfalls ist die Möglichkeit einer befristeten Einstellung mit Auflagen, die zum Ziel haben, die Gesundheit der Schuldnerin wiederherzustellen, (erneut) zu erwägen. Von einem Schuldner kann jedes zumutbare Bemühen um eine Verringerung des Gesundheitsrisikos verlangt werden (vgl. BVerfG, NZM 2005, 657, 659). Dass die Schuldnerin sich nicht als behandlungsbedürftig einstuft und eine begonnene Therapie abgebrochen hat, indiziert nicht ohne weiteres, dass sie entsprechenden gerichtlichen Auflagen nicht nachkommen und eine Therapie in jedem Fall ohne Erfolg bleiben wird. Für den Abbruch der Therapie hat sie nachvollziehbare, in der Person des Therapeuten liegende Gründe angegeben. Im Übrigen - nämlich hinsichtlich der Untersuchung durch den Sachverständigen, der Anhörung durch das Beschwerdegericht und einer Vorsprache bei der Betreuungsbehörde - hat sie sich bislang, wenn auch im Hinblick auf eine erhoffte einstweilige Einstellung des Verfahrens, kooperativ verhalten. Dem Gläubiger kann eine befristete Einstellung des Verfahrens nach den Umständen des Einzelfalls auch dann zuzumuten sein, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 67/07, NJW 2008, 586; , WuM 2010, 250, 251 Rn. 11).

142. Im Übrigen gibt der angefochtene Beschluss Anlass zu dem Hinweis, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, wegen der sich aus § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 Abs. 1 ZPO ergebenden Beschränkung den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt wiedergeben müssen. Wird dem nicht genügt, liegt ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel vor, der ohne weiteres die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung zur Folge hat (vgl. z.B. , NJW-RR 2005, 78). Hier liegt es nur deshalb anders, weil sich der maßgebliche Sachverhalt mit noch ausreichender Deutlichkeit den Gründen der Beschwerdeentscheidung in Verbindung mit dem eingeholten Gutachten und dem Protokoll über die Anhörung der Schuldner entnehmen lässt.

V.

15Die Festsetzung des Gegenstandswerts für die anwaltliche Vertretung der Beteiligten zu 1 beruht auf § 26 Nr. 2 RVG. Gerichtskosten sind im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht angefallen.

Stresemann                           Lemke                            Schmidt-Räntsch

                        Czub                             Kazele

Fundstelle(n):
NJW-RR 2013 S. 628 Nr. 10
RAAAE-29713