BFH Beschluss v. - III B 144/09

Divergenz bei nur fallbezogenen Rechtsauführungen des FG; Prüfung der Befähigung zum Selbstunterhalt eines behinderten Kindes

Gesetze: AO § 37 Abs. 2, FGO § 56, FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2, FGO § 116 Abs. 3 Satz 3, EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3

Instanzenzug: (Kg)

Gründe

1 I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog für seine Tochter S, geb. im August 1983, für das Jahr 2003 (Streitjahr) Kindergeld. Die von S begonnene Berufsausbildung endete vorzeitig mit Ablauf des . In der Zeit vom 1. Januar bis erhielt S Arbeitslosengeld von insgesamt 285,27 €. Mit Schreiben vom erkannte die Berufsunfähigkeitsversicherung der S ab Mai 2002 eine Rente von monatlich 657,08 € an. S erhielt hieraus ab März 2003 die laufenden monatlichen Zahlungen, zudem eine im Monat März 2003 für die Zeit von Mai 2002 bis Februar 2003 (10 Monate) ausbezahlte Nachzahlung von 6.530,80 €.

2 Im Juli 2004 wurde der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) bekannt, dass S ihre Lehre aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen und sich Arbeitsplatz- bzw. Ausbildungsplatz suchend gemeldet habe. Im November 2004 reichte der Kläger bei der Familienkasse einen Bescheid des Versorgungsamtes vom nach, in dem für S ein Grad der Behinderung von 30 v.H. festgestellt wurde.

3 Mit Bescheid vom hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2003 auf, weil die Einkünfte und Bezüge der S den Jahresgrenzbetrag von 7.188 € übersteigen würden. Zugleich forderte die Familienkasse das für das Streitjahr überzahlte Kindergeld in Höhe von 1.848 € zurück. Der Einspruch blieb erfolglos.

4 Das Finanzgericht (FG) wies die hiergegen erhobene Klage mit Urteil vom ab. Es könne dahingestellt bleiben, ob S als behindertes oder arbeitsloses Kind zu berücksichtigen sei. Selbst bei einer Berücksichtigung als behindertes Kind sei S wegen der Berufsunfähigkeits-Rentennachzahlung (Nachzahlung) im Streitjahr nicht außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Es gelte das Monatsprinzip. Der am Ende des Zuflussmonats nach Abzug des Bedarfs nicht verbrauchte Betrag habe sich zu Beginn des Folgemonats nicht in —außer Ansatz bleibendes— Vermögen umgewandelt. Jährlich anfallende Einnahmen seien auf den Zuflussmonat und die nachfolgenden 11 Monate aufzuteilen, so dass im Streitjahr ein Betrag von 10/12 der Nachzahlung (= 5.442,33 €) berücksichtigt werden müsse. Es könne daher dahingestellt bleiben, ob alle vom Kläger geltend gemachten Aufwendungen zu berücksichtigen seien. Selbst dann hätten die finanziellen Mittel der S ihren gesamten Bedarf abgedeckt.

5 Der angerufene Senat hat dem Kläger auf dessen Antrag mit Beschluss vom III S 40/08 (PKH), zugestellt am , Prozesskostenhilfe (PKH) für das von diesem beabsichtigte Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des FG bewilligt und ihm seinen Bevollmächtigten beigeordnet. Durch am beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schriftsatz beantragte der Kläger wegen Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte eine mit einer Begründung versehene Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ein. Mit seiner Beschwerde macht er die Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Rechtsfortbildung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 und 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

6 II. Die Beschwerde hat teilweise Erfolg.

7 1. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG ist fristgerecht eingelegt und begründet worden.

8 Da das Urteil des FG dem Kläger bereits am zugegangen ist, konnte die erst am beim BFH eingegangene Nichtzulassungsbeschwerde weder die einmonatige Einlegungsfrist (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO) noch die zweimonatige Begründungsfrist (§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO) wahren.

9 Dem Kläger ist jedoch hinsichtlich der beiden versäumten Fristen nach § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Er war wegen Mittellosigkeit an der Einhaltung der Fristen gehindert. Das Hindernis entfiel mit Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung von PKH am . Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO) hat er am die Wiedereinsetzung beantragt und die versäumte Rechtshandlung —die Beschwerdeeinlegung— nachgeholt sowie zugleich —und damit in jedem Fall fristgerecht— die Beschwerde auch begründet.

10 2. Die Beschwerde ist erfolgreich, soweit sie die Nichtzulassung der Revision wegen Kindergeld für die Monate Januar bis März 2003 betrifft. Insoweit hat der Kläger in einer den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügenden Art und Weise dargelegt, dass das FG von dem (BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046) abgewichen ist.

11 a) Eine Divergenz i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO ist anzunehmen, wenn das FG mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. , BFH/NV 2011, 282). Allerdings ist es nicht stets erforderlich, dass das FG den abweichenden Rechtssatz in den Urteilsgründen ausdrücklich formuliert hat. Er kann auch konkludent in scheinbar nur fallbezogenen Rechtsausführungen ausgesprochen sein. Eine Abweichung kann deshalb auch vorliegen, wenn das FG einem bestimmten Sachverhalt eine andere Rechtsfolge beigemessen hat als sie der BFH zu einem im Wesentlichen gleichen Sachverhalt ausgesprochen hat (, BFH/NV 2008, 1158). Indes reichen weder eine Divergenz in der Würdigung von Tatsachen noch die angeblich fehlerhafte Anwendung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalls noch schlichte Subsumtionsfehler des FG aus (, BFH/NV 2007, 2293, m.w.N.).

12 b) Im finanzgerichtlichen Verfahren ging es insbesondere um die Frage, wie sich die im März 2003 an S ausbezahlte Nachzahlung auf die Beantwortung der Frage auswirkt, ob S i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) außerstande war, sich selbst zu unterhalten.

13 Der BFH hat für solche Fälle in dem vom Kläger angeführten Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046 entschieden, dass —ausgehend vom Monatsprinzip— eine für einen vergangenen Zeitraum geleistete einmalige Sonderzahlung erst ab dem Monat des Zuflusses zu berücksichtigen ist. Behinderten Kindern kann daher —anders als bei Geltung des Jahresprinzips (vgl. dazu Senatsbeschluss vom III B 64/07, BFHE 222, 471, BStBl II 2011, 37)— auch für solche Berücksichtigungsmonate Kindergeld gewährt werden, in denen sie keine oder nur geringe Einkünfte/Bezüge haben, selbst wenn ihre insgesamt im Kalenderjahr erhaltenen Einkünfte/Bezüge über dem Bedarf liegen. Zudem hat der BFH in der genannten Divergenzentscheidung festgestellt, dass sich eine im Laufe des Monats ausbezahlte Nachzahlung, die zum Wegfall der Bedürftigkeit führt, erst in dem auf den Zuflussmonat folgenden Monat auswirken kann. Das FG hat hingegen —auch wenn im Urteil auf das Monatsprinzip Bezug genommen wird— die Berechnung nach dem in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG niedergelegten Jahresprinzip vorgenommen, indem es die Nachzahlung auch auf die Monate Januar bis März 2003 verteilt hat.

14 3. Die Beschwerde ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO), soweit sie die Nichtzulassung der Revision wegen Kindergeld für die Monate April bis Dezember 2003 betrifft. Der Senat kann insoweit offen lassen, ob der Kläger den Darlegungsanforderungen i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprochen hat, denn die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe liegen jedenfalls nicht vor.

15 a) Soweit der Kläger in der vom FG vorgenommenen Abgrenzung zwischen dem nicht anzusetzenden Vermögen und den anzusetzenden finanziellen Mitteln des Behinderten eine Abweichung von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts —BVerwG— (, BVerwGE 108, 296) und des Bundessozialgerichts —BSG— (, BSGE 88, 258) erkennen will, liegt die behauptete Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO nicht vor.

16 Das FG hat die Abgrenzung nach den im (BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248) niedergelegten Kriterien vorgenommen, wonach bei Sonderzahlungen ein Einnahmeüberhang aus dem Vormonat auch im Folgemonat noch zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung steht. Ein Widerspruch zu den vorgeblichen Divergenzentscheidungen ist nicht erkennbar. Sowohl das BVerwG als auch das BSG haben die in diesen Verfahren streitgegenständlichen Zahlungen nicht als Vermögen, sondern als Einkommen/Einkünfte beurteilt.

17 b) Soweit der Kläger wegen des nicht erfolgten Abzugs der Nachzahlung und eines anzusetzenden Werts für die Betreuungsleistung der Mutter eine Abweichung des FG von dem (BFH/NV 2007, 1112) rügt, ist eine Divergenz ebenfalls nicht erkennbar.

18 Der Kläger führt in der Beschwerdebegründung an, dass die Anmietung der neuen Wohnung insoweit krankheitsbedingt gewesen sei, als sich die neue Wohnung der S im selben Haus wie die Arbeitsstätte ihrer Mutter befunden habe und erst dadurch habe gewährleistet werden können, dass S die nötige Unterstützung erhalte. Zudem sei für die Betreuungsleistungen der Mutter eine übliche Vergütung zum Abzug zu bringen.

19 In der vorgeblichen Divergenzentscheidung hat der BFH aber nicht entschieden, dass Aufwendungen der eben genannten Art als behinderungsbedingter Mehrbedarf abzuziehen sind, sondern allgemein festgestellt, dass bei einem fehlenden Nachweis des individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarfs der maßgebliche Behindertenpauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG anzusetzen ist. Im Übrigen ist das FG im Urteil erkennbar davon ausgegangen, dass individuelle behinderungsbedingte Mehraufwendungen zum Abzug zu bringen sind.

20 c) Die Revision ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 FGO wegen Erforderlichkeit der Rechtsfortbildung zuzulassen.

21 Eine Fortbildung des Rechts ist erforderlich, wenn über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist, insbesondere dann, wenn der Einzelfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen (, BFH/NV 2005, 1289; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 41). Hieran fehlt es im Streitfall.

22 aa) Der Kläger behauptet zwar, es sei ungeklärt, mit welchem Wert einmalige Sonderzahlungen bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen seien, ob ein behindertes Kind i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG außerstande war, sich selbst zu unterhalten. Der BFH hat aber in dem bereits genannten Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046 (vgl. II.2.b) entschieden, dass einmalige Sonderzahlungen —anders als jährlich wiederkehrende Zahlungen, die auf den Zuflussmonat und die nachfolgenden 11 Monate aufzuteilen sind (vgl. dazu BFH in BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248)— in voller Höhe im Jahr des Zuflusses zu erfassen sind.

23 bb) Soweit der Kläger die Frage thematisiert, unter welchen Voraussetzungen der Grundsatz von Treu und Glauben einer Erstattungspflicht des Kindergeldempfängers nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung entgegenstehen kann, ist höchstrichterlich geklärt, dass zur Schaffung des erforderlichen Vertrauenstatbestandes (Umstandsmoments) besondere Umstände hinzu kommen müssen, die die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs als illoyale Rechtsausübung erscheinen lassen. Dem Verhalten der Familienkasse muss die konkludente Zusage zu entnehmen sein, dass der Kindergeldempfänger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen braucht (z.B. Senatsbeschluss vom III B 37/09, BFH/NV 2010, 837, m.w.N.). Die Frage, ob einem Verhalten der Familienkasse eine derartige Bedeutung zukommt, ist nicht von allgemeinem Interesse. Dies lässt sich nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls beurteilen und ist einer Verallgemeinerung nicht zugänglich (vgl. Senatsbeschluss in BFH/NV 2010, 837).

24 4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.

25 5. Hinsichtlich des erfolglosen Teils der Beschwerde folgt die Kostenentscheidung aus § 135 Abs. 2 FGO. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung dem Revisionsverfahren vorbehalten (z.B. , BFH/NV 2005, 40).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
AO-StB 2011 S. 210 Nr. 7
BFH/NV 2011 S. 1144 Nr. 7
KAAAD-82714