BFH Urteil v. - III R 76/08

Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsbürger nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit

Leitsatz

Ab einem Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Monaten besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit vom für türkische Staatsbürger ein Anspruch auf Kindergeld unter denselben Voraussetzungen wie für einen deutschen Staatsbürger.
Vergleichbar .

Gesetze: AO § 9 Satz 2, EStG § 62 Abs. 1 Nr.1

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist türkischer Staatsbürger und Vater von fünf Kindern. Nach rechtskräftiger Ablehnung eines früheren Asylantrages reiste er im Juli 2001 mit seiner Ehefrau und den Kindern A (geb. 1993) und B (geb. 1994) erneut in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) ein und stellte einen weiteren Asylantrag. Die Kinder C (geb. 1990) und D (geb. 1991) zogen im April 2005 in die Bundesrepublik nach; das Kind E ist im November 2005 in der Bundesrepublik geboren. Der Kläger hielt sich aufgrund von Aufenthaltsgestattungen bzw. Duldungen in der Bundesrepublik auf; seit März 2007 ist er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes.

2 Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers auf Kindergeld vom / ab. Der Einspruch blieb erfolglos.

3 Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse, für die Kinder A und B ab Januar 2002, für die Kinder C und D ab April 2005 sowie für das Kind E ab November 2005 Kindergeld zu gewähren. Im Übrigen wies es die Klage ab. Der Anspruch auf Kindergeld ergebe sich aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Vorläufigen Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom —Vorläufiges Europäisches Abkommen (VEA)— (BGBl II 1956, 507) i.V.m. §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Entgegen der Auffassung der Familienkasse setze der Anspruch nach dem VEA nicht voraus, dass sich der Kläger selbst eine Wohnung beschafft habe. Die dem Kläger zugewiesene Unterkunft in einem Übergangsheim reiche aus.

4 Zur Begründung der Revision beruft sich die Familienkasse auf die Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom , BA-Rundbrief 76/2002, Anlage 2 Tz. 2.5 Abs. 4 (abgedruckt bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, III. Rundschreiben, 3.). Danach setze der Begriff „Wohnen” in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA voraus, dass der Betreffende über eine eigene Wohnung verfüge.

5 Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit das FG der Klage stattgegeben habe, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

6 Der Kläger hat sich nicht geäußert.

7 II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Zutreffend hat das FG die Familienkasse verpflichtet, für die Kinder A und B ab Januar 2002, für die Kinder C und D ab April 2005 sowie für das Kind E ab November 2005 Kindergeld zu gewähren.

8 1. Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA haben türkische Staatsangehörige, die seit wenigstens sechs Monaten in der Bundesrepublik wohnen, wie deutsche Staatsangehörige einen Anspruch auf Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG. Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten für sie aufgrund des VEA die Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht.

9 Nach dem zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Urteil des Senats vom III R 42/09 (nachzulesen unter www.bundesfinanzhof.de) ist der Begriff „Wohnen” in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA nicht einschränkend in dem Sinn auszulegen, dass nur der Aufenthalt in einer eigenen Wohnung zu Leistungen berechtigt. Vielmehr umfasst der Begriff „Wohnen” auch den Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft. Auch nach der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 2009 —DA-FamEStG 2009— (BStBl I 2009, 1033) 62.4.3 Abs. 3 Satz 6 folgt aus dem VEA nach einem sechsmonatigen Aufenthalt im Bundesgebiet ein Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige (so bereits Verfügung vom zur Änderung der DA-FamEStG 2004, BStBl I 2007, 489, 492).

10 2. Der Kläger hat seit Juli 2001 im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG; die Kinder A und B halten sich ebenfalls seit Juli 2001, die Kinder C und D seit April 2005 und das Kind E seit seiner Geburt im November 2005 in der Bundesrepublik auf. Nach § 9 Satz 2 der Abgabenordnung (AO) ist als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der AO stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen. Aufgrund der unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung des § 9 Satz 2 AO (vgl. Senatsurteil vom III R 148/86, BFHE 151, 46, BStBl II 1988, 14) kommt es nicht darauf an, ob in einem Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S. des § 30 Abs. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch begründet werden kann (bejahend , Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 436.0, § 107 BSHG Nr. 1; ablehnend für die Dauer des Asylverfahrens noch 8b RKg 4/79, BSGE 49, 254).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2011 S. 213 Nr. 2
GAAAD-58638