BFH Urteil v. - VI R 39/07 BStBl 2009 II S. 475

Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ohne Anwendung einer Mindestentfernung (sog. 30 km-Grenze) in voller Höhe als Werbungskosten absetzbar

Leitsatz

1. Für die Wege eines Arbeitnehmers zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten ist keine Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG anzusetzen.

2. Die Fahrtkosten sind unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) in tatsächlicher Höhe als Werbungskosten zu berücksichtigen.

3. Die frühere Rechtsprechung zur Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG bei Fahrten zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten im Einzugsbereich (sog. 30-km-Grenze) ist aufgrund geänderter Rechtsprechung des BFH überholt.

Gesetze: EStG (i.d.F. 2004) § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4EStG (i.d.F. 2004) § 9 Abs. 1 Satz 1,§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 3§ 9 Abs. 5LStR 1996 Abschn. 38 Abs. 5 LStR 1996 Abschn. 38 Abs. 5LStR 2008 R 9.5 LStR 2008 R 9.5LStH 2008 H 9.4 9.5 LStH 2008 H 9.4, 9.5

Instanzenzug: (EFG 2008, 940) (Verfahrensverlauf), ,

Gründe

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war im Streitjahr 2004 an 257 Werktagen als Bauarbeiter auf wechselnden Tätigkeitsstätten eingesetzt, die bis zu 45 km von seinem Wohnort entfernt lagen.

Im Einkommensteuerbescheid für 2004 berücksichtigte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) die Fahrten des Klägers mit dem eigenen PKW zu solchen Tätigkeitsstätten, die weniger als 30 km von seinem Wohnort entfernt lagen, nur mit der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr 2004 geltenden Fassung (EStG).

Der hiergegen gerichtete Einspruch des Klägers, mit dem er den Ansatz der tatsächlichen Kosten (in Höhe des Pauschbetrags von 0,30 € je km) begehrte, blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 940 veröffentlichten Gründen insoweit statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Die Fahrtkosten des Klägers zu den wechselnden Tätigkeitsstätten in einer Entfernung von der Wohnung von weniger als 30 km (sog. Einzugsbereich) könnten als Werbungskosten nur in Höhe der Entfernungspauschale berücksichtigt werden. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe bereits in seinem Urteil vom VI R 157/81 (BFHE 144, 46, BStBl II 1985, 595) entschieden, dass die tatsächlichen Kosten nur für solche Fahrten angesetzt werden könnten, die über den Einzugsbereich hinausgehen; die innerhalb dieses Bereichs liegenden Fahrten unterlägen der Abzugsbeschränkung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Diesen Rechtsgrundsatz habe der BFH auch in seiner neueren Rechtsprechung nicht aufgegeben.

Das FA beantragt (sinngemäß), das Urteil des Sächsischen abzuändern und die Klage auch hinsichtlich des genannten Streitpunktes abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Zutreffend führt das FA an, dass der BFH u.a. in dem vorgenannten Urteil in BFHE 144, 46, BStBl II 1985, 595 entschieden hat, es seien (nur) die Pauschsätze des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG und nicht die tatsächlichen Kosten anzusetzen, wenn ein Arbeitnehmer an wechselnden Einsatzorten in einer Entfernung von seiner Wohnung tätig ist, wie sie auch von vielen anderen Arbeitnehmern mit einer festen Arbeitsstätte täglich zurückgelegt wird (ebenso , BFHE 152, 232, BStBl II 1988, 443; vom VI R 2/92, BFHE 175, 553, BStBl II 1995, 137, unter 2.a der Gründe). Die Entfernungsgrenze hat die Finanzverwaltung für Veranlagungszeiträume ab 1996 auf 30 km festgelegt (vgl. Abschn. 38 Abs. 5 der Lohnsteuer-RichtlinienLStR— 1996).

2. Die vom FA in Bezug genommene (ältere) Rechtsprechung des Senats zur Ausdehnung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG auf Fahrtkosten bei wechselnden Tätigkeitsstätten im sog. Einzugsbereich ist jedoch mit der Gesetzessystematik und der neueren Rechtsprechung des BFH zur Berücksichtigung von Fahrtkosten bei Auswärtstätigkeiten nicht vereinbar (ebenso Schmidt/ Drenseck, EStG, 27. Aufl., § 9 Rz 120; Bergkemper, Finanz-Rundschau —FR— 2005, 1113, 1114; Albert, FR 2006, 302, 305). Denn die neuere Rechtsprechung des BFH unterscheidet —auch begrifflich— strikt zwischen Fahrten zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG) einerseits und Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten andererseits (zum Begriff vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 3 EStG i.V.m. § 9 Abs. 5 EStG; zu den gleichen Maßstäben bei Fahrtkosten und Mehrverpflegungsaufwendungen aus Gründen der Folgerichtigkeit und zum Zweck der Vereinfachung: s. u.a. , BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785, unter II.3.b der Gründe; Fissenewert, Der Betrieb, Beilage 6/2006, 32 ff., 35).

a) Nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG sind Aufwendungen des Arbeitnehmers für die Wege zwischen Wohnung und (regelmäßiger) Arbeitsstätte Werbungskosten. Die Vorschrift hat insofern abzugsbeschränkende Wirkung, weil zur Abgeltung dieser Aufwendungen für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die Arbeitsstätte aufsucht, (nur) eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte von 0,30 € anzusetzen ist.

Regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist nach der Rechtsprechung des Senats jede ortsfeste dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, das heißt fortdauernd und immer wieder aufsucht; dies ist regelmäßig der Betrieb des Arbeitgebers oder ein Zweigbetrieb (z.B. Urteile vom VI R 21/07, BFH/NV 2008, 1923; vom VI R 85/04, BFHE 221, 11, BStBl II 2008, 887 zu § 8 Abs. 2 Satz 3 EStG; vom VI R 93/04, BFH/NV 2006, 53; vom VI R 15/04, BFHE 209, 515, BStBl II 2005, 788; VI R 16/04, BFHE 209, 518, BStBl II 2005, 789; VI R 25/04, BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791).

Liegt eine auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegte (regelmäßige) Arbeitsstätte vor, so kann sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten hinwirken. Demgemäß kann die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als eine sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip angesehen werden (hierzu z.B. BFH-Urteil in BFHE 209, 523, BStBl II 2005, 791).

b) Die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kann indessen schon deshalb nicht für Fahrten des Arbeitnehmers zu ständig wechselnden Tätigkeitsstätten angewendet werden, weil derartige Einsatzstellen nicht auf Dauer und Nachhaltigkeit angelegt sind (vgl. auch BFH-Urteile in BFHE 209, 508, BStBl II 2005, 785; vom VI R 34/04, BFHE 209, 527, BStBl II 2005, 793). Die Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG erwiese sich bei Fahrten zu wechselnden Tätigkeitsstätten als systemwidrig, weil der Arbeitnehmer bei wechselnden Einsätzen im Interesse des Arbeitgebers beweglich bleiben muss, er deshalb typischerweise oft auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist und die Entfernung der sich laufend ändernden Tätigkeitsstätten vom Wohnort oft stark schwankt (vgl. auch , BFHE 209, 502, BStBl II 2005, 782, m.w.N.). Diese Sachlage ist typischerweise auch bei ständig wechselnden Tätigkeitsstätten eines Arbeitnehmers innerhalb eines Einzugsbereichs von 30 km gegeben.

3. Hieraus ergibt sich, dass Fahrten zwischen Wohnung und ständig wechselnden Tätigkeitsstätten unabhängig von der Entfernung (ab dem ersten Kilometer) mit den tatsächlichen Kosten als Werbungskosten zu berücksichtigen sind.

Der Senat geht davon aus, dass sich die Finanzverwaltung dieser Rechtsauffassung zwischenzeitlich angeschlossen hat. Denn die in R 38 Abs. 3 LStR (1999 bis 2007) angeführte Regelung zur 30-km-Grenze ist in den LStR 2008 nicht mehr enthalten (vgl. R 9.5 LStR 2008 und H 9.4, 9.5 des Lohnsteuer-Handbuchs 2008).

Fundstelle(n):
BStBl 2009 II Seite 475
BB 2009 S. 467 Nr. 10
BB 2009 S. 876 Nr. 17
BBK-KN Nr. 54/2009 (Ansatz der Fahrtkosten bei ständig wechselnden Einsatzstellen in tatsächlicher Höhe)
BFH/NV 2009 S. 647 Nr. 4
BFH/PR 2009 S. 169 Nr. 5
BStBl II 2009 S. 475 Nr. 12
DB 2009 S. 486 Nr. 10
DStR 2009 S. 425 Nr. 9
DStRE 2009 S. 385 Nr. 6
DStZ 2009 S. 230 Nr. 7
EStB 2009 S. 86 Nr. 3
FR 2009 S. 724 Nr. 15
HFR 2009 S. 460 Nr. 5
KÖSDI 2009 S. 16397 Nr. 3
NJW 2009 S. 1532 Nr. 21
NWB-Eilnachricht Nr. 10/2009 S. 675
StB 2009 S. 97 Nr. 4
StBW 2009 S. 3 Nr. 5
StC 2009 S. 11 Nr. 4
StuB-Bilanzreport Nr. 5/2009 S. 202
MAAAD-10751