BFH Urteil v. - VII R 30/07

Einfuhrumsatzsteuer für vorschriftswidrig über einen anderen Mitgliedstaat nach Deutschland verbrachte Waren

Leitsatz

Werden Waren, die aus einem Drittland in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft vorschriftswidrig verbracht wurden, in die Bundesrepublik Deutschland weitertransportiert und hier entdeckt, gilt unter den Voraussetzungen des Art. 215 Abs. 4 ZK nicht nur die Zollschuld, sondern auch die Einfuhrumsatzsteuerschuld als in der Bundesrepublik Deutschland entstanden.

Gesetze: ZK Art. 202ZK Art. 215 Abs. 1ZK Art. 215 Abs. 4RL 77/388/EWGRL 77/388/EWG Art. 7 Abs. 1RL 77/388/EWG Art. 7 Abs. 2RL 77/388/EWG Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2UStG § 1 Abs. 1 Nr. 4UStG § 21 Abs. 2

Instanzenzug:  VTa,Z,EU

Gründe

I.

Bei einer polizeilichen Kontrolle im Mai 2005 wurden in einem PKW mehrere Stangen unverzollte und unversteuerte Zigaretten gefunden. Der Beifahrer gab an, die Zigaretten zusammen mit zwei polnischen Staatsangehörigen —darunter der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger)—, die sich in einem anderen PKW auf einem Parkplatz aufhielten, von Polen nach Deutschland geschmuggelt zu haben. Bei der anschließenden polizeilichen Durchsuchung auch dieses PKW wurden weitere unverzollte und unversteuerte Zigaretten gefunden.

Mit Steuerbescheid vom…setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt —HZA—) für die aufgefundene Menge Zigaretten die Einfuhrabgaben (Zoll, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer) gegen den Kläger als Gesamtschuldner neben weiteren Personen fest.

Auf die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hob das Finanzgericht (FG) den Steuerbescheid auf, soweit Einfuhrumsatzsteuer festgesetzt worden war, und wies die Klage im Übrigen ab. Das FG urteilte, dass nach dem gegen den Kläger ergangenen rechtskräftig gewordenen Strafbefehl davon auszugehen sei, dass der Kläger zusammen mit weiteren Beteiligten die zuvor vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbrachten Zigaretten nach Deutschland verbracht habe. Der Kläger sei daher Zollschuldner nach Art. 202 Abs. 3 Anstrich 3 des Zollkodex (ZK); die Tabaksteuer schulde er nach § 19 Satz 1 und 2 des Tabaksteuergesetzes. Allerdings sei die Einfuhrumsatzsteuer zu Unrecht gegen den Kläger festgesetzt worden, weil nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) nur die Einfuhr von Gegenständen im Inland aus Drittländern der Umsatzsteuer unterliege. Die Einfuhr aus Drittländern erfolge in dem Mitgliedstaat der Gemeinschaft, in dessen Hoheitsgebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befinde, in dem er in die Gemeinschaft verbracht werde. Da aber die Zigaretten in Polen in die Gemeinschaft verbracht worden seien, sei in Deutschland keine Einfuhrumsatzsteuer entstanden.

Mit seiner Revision macht das HZA geltend, dass die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer gemeinschaftsrechtlich an die Zollschuldentstehung gekoppelt sei.

II.

Die Revision des HZA ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit der Klage stattgegeben worden ist, und zur vollständigen Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Der angefochtene Steuerbescheid ist auch insoweit rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO), als mit ihm die auf die Zigaretten entfallende Einfuhrumsatzsteuer gegen den Kläger festsetzt worden ist.

Der Einfuhrumsatzsteuer unterliegt nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG die Einfuhr von Gegenständen im Inland oder in den —für den Streitfall keine Rolle spielenden— in der Vorschrift aufgeführten österreichischen Gebieten. Eine Definition der „Einfuhr” enthält das UStG nicht; der Begriff lässt sich jedoch anhand des (im Streitfall noch anzuwendenden) Art. 7 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern —RL 77/388/EWG— (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 145/1) bestimmen. Danach wird für die Einfuhr vorausgesetzt, dass der betreffende Gegenstand aus dem Drittlandsgebiet über die Grenze des Zollgebiets der Gemeinschaft hinweg in die Gemeinschaft verbracht wird (Art. 7 Abs. 1 RL 77/388/EWG), wobei die Einfuhr des Gegenstandes in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Hoheitsgebiet er sich im Zeitpunkt des Verbringens befindet (Art. 7 Abs. 2 RL 77/388/EWG). Dies entspricht der Rechtslage gemäß Art. 30 und Art. 60 der am in Kraft getretenen Richtlinie 2006/112/EG (Mehrwertsteuer-SystemrichtlinieMwStSystRL—) des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 347/1).

Daraus folgt für den Streitfall —wie das FG geurteilt hat—, dass die Zigaretten nicht aus einem Drittland nach Deutschland eingeführt worden sind. Es ist zwar nicht nachvollziehbar, wie das FG zu der Feststellung gelangt ist, dass die Zigaretten aus einem Drittland nach Polen vorschriftswidrig verbracht worden sind, denn es gibt keine Erkenntnisse, wo die Zigaretten die Grenze zum Zollgebiet der Gemeinschaft überschritten haben. Diese Frage kann jedoch offenbleiben, da die Zigaretten nach den Feststellungen im Ermittlungsverfahren von Polen aus nach Deutschland verbracht worden sind, weshalb alles dafür spricht, dass der Grenzübertritt der Zigaretten aus einem Drittland in das Zollgebiet der Gemeinschaft jedenfalls nicht nach Deutschland erfolgt ist.

Nach Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 77/388/EWG (jetzt Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL) treten der Steuertatbestand und der Steueranspruch bei Gegenständen, die Zöllen oder anderen gemeinschaftlichen Abgaben unterliegen, zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der Tatbestand und der Anspruch dieser gemeinschaftlichen Abgaben entstehen. Da die Einfuhrzollschuld im Fall des vorschriftswidrigen Verbringens nach Art. 202 Abs. 2 ZK in dem Zeitpunkt entsteht, in dem die Ware vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Gemeinschaft verbracht wird, entsteht in diesem Zeitpunkt auch die Umsatzsteuer bei der Einfuhr.

Aus den genannten Regelungen folgt jedoch entgegen der Ansicht des FG nicht, dass die wegen des vorschriftswidrigen Verbringens aus einem Drittland in einen zum Zollgebiet der Gemeinschaft gehörenden Mitgliedstaat entstandene Umsatzsteuer bei der Einfuhr nur von den Zollbehörden dieses Mitgliedstaats erhoben werden darf. Vielmehr folgt die Befugnis zur Erhebung der Steuer grundsätzlich der Befugnis zur Zollerhebung.

Die durch Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 77/388/EWG angeordnete enge Verknüpfung des Rechts der Umsatzsteuer bei der Einfuhr mit dem Zollrecht wird durch § 21 Abs. 2 UStG in nationales Recht umgesetzt. Nach dieser Vorschrift gelten für die Einfuhrumsatzsteuer —von einigen hier nicht maßgebenden Ausnahmen abgesehen— die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Durch die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften soll insbesondere sichergestellt werden, dass die bei der Einfuhr zu erhebenden Abgaben von ein und derselben Behörde in einem Bescheid nach dem gleichen Verfahren aufgrund einheitlich getroffener Feststellungen einfach und zweckmäßig erhoben werden; dieser Zweck wird nur erreicht, wenn es regelmäßig zur Anwendung der Zollvorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer kommt (Senatsurteil vom VII R 71/88, BFHE 161, 260).

Somit kommt für die Einfuhrumsatzsteuer Art. 215 ZK sinngemäß zur Anwendung, dessen in Abs. 4 der Vorschrift normierte Voraussetzungen das FG —hinsichtlich der Zollschuld und ausgehend von der Annahme, dass die Zigaretten zuvor nach Polen vorschriftswidrig verbracht worden waren— zu Recht als erfüllt angesehen hat. War aber danach das HZA berechtigt, den auf die geschmuggelten Zigaretten entfallenden Zoll gegen den Kläger festzusetzen, so gilt dies auch für die Einfuhrumsatzsteuer. Ebenso wie die Zollschuld gilt nach § 21 Abs. 2 UStG i.V.m. Art. 215 Abs. 4 ZK die Einfuhrumsatzsteuerschuld als in Deutschland entstanden. Es spricht aus umsatzsteuerrechtlicher Sicht nichts dagegen, diese für Bagatellbeträge geltende gesetzliche Fiktion auch auf die Einfuhrumsatzsteuer anzuwenden.

Ein anderes Ergebnis ergäbe sich nicht, wenn man es entgegen der Annahme des FG als ungeklärt ansähe, in welchen Mitgliedstaat der Gemeinschaft die Zigaretten vorschriftswidrig verbracht worden waren, bevor sie nach Deutschland weitertransportiert wurden. In diesem Fall wäre die Einfuhrumsatzsteuerschuld gemäß § 21 Abs. 2 UStG i.V.m. Art. 215 Abs. 1 Anstrich 2 ZK in Deutschland entstanden. Die Einfuhrumsatzsteuer ist eine Einfuhrabgabe (§ 1 Abs. 1 Satz 3 des Zollverwaltungsgesetzes); es widerspricht nicht ihrem Sinn und Zweck, sie zu erheben, wenn Waren in das Zollgebiet der Gemeinschaft geschmuggelt und unverzollt und unversteuert über einen anderen Mitgliedstaat nach Deutschland verbracht und hier von den Zollbehörden entdeckt werden.

Der Senat hält die Auslegung der im Streitfall anzuwendenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für zweifelsfrei und sieht keine Verpflichtung, die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl.  283/81, EuGHE 1982, 3415, 3430).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 1971 Nr. 11
BFH/PR 2009 S. 40 Nr. 1
DB 2008 S. 2407 Nr. 44
DStRE 2008 S. 1474 Nr. 23
HFR 2008 S. 1267 Nr. 12
RIW 2008 S. 815 Nr. 11
StB 2008 S. 433 Nr. 12
StBW 2008 S. 8 Nr. 21
UR 2008 S. 896 Nr. 23
SAAAC-92670