BFH Urteil v. - V R 45/06

Durchbrechung der Bestandskraft von Steuerbescheiden wegen nachträglich ergangener EuGH-Rechtsprechung

Leitsatz

1. Bestandskräftig festgesetzte Steuern sind nur dann im Billigkeitsverfahren gem. § 227 AO zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren.

2. Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung steht, rechtfertigt keinen Steuererlass nach § 227 AO.

3. Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt eine Bestandskraftdurchbrechung nur ausnahmsweise bei besonderen Umständen in Betracht.

Gesetze: AO § 227, UStG § 4 Nr. 14

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), ,

Verfahrensstand: Diese Entscheidung ist rechtskräftig

Gründe

I. Streitig ist, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) ermessensfehlerfrei einen Antrag auf Erlass von Umsatzsteuern abgelehnt hat, deren —bestandskräftige— Festsetzung im Lichte der später ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) unzutreffend war.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erbrachte in den Streitjahren 1990 und 1991 als Einzelunternehmer entgeltliche Leistungen der häuslichen Krankenpflege. Im Anschluss an eine Außenprüfung ergingen am erstmals Umsatzsteuerbescheide für 1990 und 1991, in denen die Umsätze des Klägers aus Behandlungspflege nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1980/1991 (UStG) steuerfrei belassen wurden, die Umsätze aus Grundpflege und hauswirtschaftlicher Pflege jedoch als steuerpflichtig angesehen wurden.

Hiergegen legte der Kläger im Steuerfestsetzungsverfahren Einspruch ein, den er u.a. damit begründete, dass die Trennung in medizinische und nicht medizinische Pflegeleistungen in Frage zu stellen sei. Das FA wies den Einspruch am in diesem Punkt mit der Begründung zurück, zu den steuerfreien Leistungen i.S. des § 4 Nr. 14 UStG seien nur die heilberuflichen, nicht aber die sozialpflegerischen Leistungen zu rechnen. Die Einspruchsentscheidung wurde nicht mit der Klage angefochten, sodass die Steuerfestsetzungen für 1990 und 1991 im Januar 1999 bestandskräftig wurden.

Nachdem —über ein Jahr später— der (BFHE 191, 76, BFH/NV 2000, 932) dem EuGH die drei Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt hatte, ob die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 UStG auch für juristische Personen anwendbar sei („Rechtsformneutralität”), ob ggf. auch die Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung unter die Bestimmung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c und/oder Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) fielen („anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter”) und ob sich der Steuerpflichtige ggf. hierauf trotz fehlender Umsetzung durch den Gesetzgeber unmittelbar berufen könne, beantragte der Kläger beim FA am den Erlass der für 1990 und 1991 festgesetzten Umsatzsteuer.

Noch bevor der EuGH über die Vorlagefragen entschieden hatte ( —Kügler—, Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30), lehnte das FA den Erlassantrag mit der Begründung ab, ein Erlassverfahren sei nicht dazu bestimmt, die unterlassene Ausschöpfung von Rechtsmitteln zu ersetzen.

Den hiergegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom zurück. Zur Begründung führte es aus, bestandskräftig festgesetzte Steuerforderungen könnten nur dann erlassen werden, wenn die Festsetzung eindeutig und offensichtlich unzutreffend und dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar gewesen sei, sich gegen die Steuerfestsetzungen zu wehren. Dies sei nicht zu erkennen.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1726 veröffentlichte Urteil mit der Begründung ab, das FA sei zutreffend davon ausgegangen, eine bestandskräftig festgesetzte Steuer sei nur dann wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn die Steuerfestsetzung nach der im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zu beurteilenden Rechtslage offensichtlich und eindeutig unrichtig sei und es zudem dem Steuerpflichtigen nicht zumutbar gewesen sei, sich im Festsetzungsverfahren gegen die unzutreffende Steuerfestsetzung zu wehren.

Dem FA sei kein offensichtlicher und eindeutiger Rechtsfehler unterlaufen, weil die Festsetzung der damaligen herrschenden Rechtsansicht entsprochen habe. Von seiner gegenteiligen Rechtsprechung, wonach eine natürliche Person nicht nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG als begünstigte „Einrichtung mit sozialem Charakter” ( —Bulthuis-Griffioen—, Slg. 1995, I-2341, Umsatzsteuer-Rundschau —UR— 1995, 476) anzusehen sei, sei der EuGH erst später mit Urteil vom Rs. C-216/97 —Gregg— (Slg. 1999, I-4947, UR 1999, 419) abgerückt. Vor dem Ergehen der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Kügler in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30 habe das FA somit davon ausgehen dürfen, dass Umsätze des Klägers aus hauswirtschaftlicher Pflege und Grundpflege nicht steuerbefreit seien.

Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später ergangenen Rechtsprechung stehe, begründe keinen Anspruch auf Erlass der Steuer. Das FA sei auch nicht zum Erlass der Umsatzsteuer wegen eines qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht verpflichtet, denn die Rechtslage vor Ergehen der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Kügler in Slg. 2002, I-6833, BFH/NV Beilage 2003, 30 sei nicht eindeutig gewesen. Eine Schadensersatzpflicht ergebe sich auch nicht daraus, dass der BFH die streitige Rechtsfrage —wie der Kläger meinte— verspätet dem EuGH vorgelegt habe. Der BFH habe seine Vorlagepflicht nicht —wie für eine Schadensersatzverpflichtung erforderlich ( —Kapferer—, Slg. 2006, I-2585, Deutsches Verwaltungsblatt —DVBl— 2006, 569)— offenkundig verkannt. Denn angesichts der geänderten Rechtsprechung des EuGH sei für den BFH nicht offenkundig gewesen, dass eine natürliche Person eine „anerkannte Einrichtung mit sozialem Charakter” i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG sein könne.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Revision. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, eine Steuerfestsetzung sei bereits dann offensichtlich unrichtig, wenn sie aus nachträglicher Sicht nicht der zutreffenden Rechtslage entspreche („Ex-post-Betrachtung”). Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des BFH zur Rechnungsberichtigung (, BFHE 194, 552, BStBl II 2004, 370, und vom V R 61/97, BFHE 194, 517, BStBl II 2004, 373). Zwar sei der BFH in späteren Entscheidungen hiervon wieder abgerückt und habe für die Beurteilung der Offensichtlichkeit auf den Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung abgestellt (, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460; vom V R 16/04, BFHE 210, 159, BStBl II 2006, 96, und vom V R 67/05, BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436). Der entscheidende Unterschied zwischen dem Streitfall und den genannten Entscheidungen bestehe jedoch darin, dass es zu § 4 Nr. 14 UStG seit dem (BFH/NV 1998, 224) eine gefestigte Rechtsprechung gegeben habe, die es dem Steuerpflichtigen unmöglich gemacht habe, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen. Seine —des Klägers— Rechtsauffassung, wonach es nicht auf ein Verschulden des FA bei der Steuerfestsetzung ankomme, werde in dem —Willy Kempter— (BFH/NV Beilage 2008, 89) bestätigt.

Ein Anspruch auf Billigkeitserlass ergebe sich ferner nach der Rechtsprechung des —i-21 Germany-GmbH— (Slg. 2006, I-8559 Leitsatz 2). Danach bestehe ein Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht nur dann nicht, wenn die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität gewahrt seien. Dies sei nicht der Fall gewesen, weil der BFH eine Berufbarkeit auf Art. 13 Teil A Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG in ständiger Rechtsprechung abgelehnt habe.

Im Übrigen ergebe sich ein Erlassanspruch aufgrund eines Schadensersatzanspruches gegen die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik), weil diese Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG für sozialpflegerische Leistungen erst ab dem Jahre 1992 umgesetzt und auch der BFH die Frage nach der Ausprägung des Buchst. g des Art. 13 Teil A Abs. 1 wegen Unklarheiten des Gemeinschaftsrechts früher dem EuGH hätte vorlegen müssen. Zwar dürften sich nach den EuGH-Urteilen vom Rs. C-224/01 —Köbler— (Slg. 2003, I-10239 Randnr. 21, Der Betrieb —DB— 2003, 2331) und vom Rs. C-173/03 —Traghetti— (Slg. 2006, I-5177) nur diejenigen Personen auf eine unterlassene Vorlage berufen, die hiervon unmittelbar betroffen seien. Eine Schadensersatzpflicht ergebe sich jedoch auch gegenüber Personen „mit nahezu identischen Verfahren”.

Schließlich habe das FG verfahrensfehlerhaft unterlassen, den Verfasser einer Bescheinigung der .verwaltung vom als sachverständigen Zeugen zu hören. Darin sei bestätigt worden, dass der Kläger spätestens seit 1988 die gleichen Tätigkeiten ausführe wie die Pflegestationen der Freien Wohlfahrtspflege.

Der Kläger beantragt,

1. unter Aufhebung der Vorentscheidung sowie des Ablehnungsbescheides des FA vom und der Einspruchsentscheidung vom das FA zu verpflichten, die festgesetzte Umsatzsteuer 1990 in Höhe von . € sowie die Umsatzsteuer 1991 in Höhe von . € zu erlassen,

2. hilfsweise, das FA zu verpflichten, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden,

3. weiter hilfsweise dem EuGH folgende Fragen vorzulegen:

„a) Gebietet es der Grundsatz der Effektivität, die Bestandskraft einer ursprünglich nicht durch Klage angefochtenen Entscheidung einer Behörde aufzuheben, wenn die Behörde der damaligen gefestigten Rechtsprechung des höchsten Fachgerichts gefolgt war und der Gerichtshof die einschlägigen Bestimmungen später anders auslegte?

b) Gebietet es der Grundsatz der Effektivität, für die Beurteilung der Offensichtlichkeit oder Eindeutigkeit eines Verstoßes der Entscheidung einer Behörde gegen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf den Zeitpunkt des Erlasses oder der Bestandskraft der nicht durch Klage angefochtenen Entscheidung der Behörde abzustellen oder kommt es auf die nach Eintritt der Bestandskraft vom Gerichtshof klargestellte Rechtslage an, wie sie sich in einem späteren Klageverfahren im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung darstellt?

c) Kann sich ein Steuerpflichtiger darauf berufen, ein letztinstanzliches Gericht habe gegen seine Verpflichtung nach Art. 234 Abs. 3 EG verstoßen, wenn er zwar nicht selber Klagepartei war, aber der Berater bzw. Vertreter der Klagepartei auch ihn in einer gleichgearteten Parallelsache beraten hatte, ihn über eine ungünstige Entscheidung des Gerichts oder eine für ihn ungünstige gefestigte Rechtsprechung des Gerichts unterrichtete und er deswegen selbst von der Erhebung einer Klage absah?

d) Gilt die im Urteil Kühne & Heitz genannte Voraussetzung, wonach das mit einer Sache befasste Gericht eine entscheidungserhebliche Frage entgegen Art. 234 Abs. 3 EG nicht dem EuGH vorgelegt hatte, auch in den Fällen, in denen es bereits eine gefestigte Rechtsprechung des höchsten Fachgerichts des betreffenden Mitgliedstaates gab und der betroffene Bürger deshalb ein gerichtliches Verfahren nicht angestrengt hatte?

e) Ist ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Unterlassen einer Vorlage nach Art. 234 Abs. 3 EG für den Schadensersatzanspruch eines Bürgers in einem anderen Verfahren auch dann zu verlangen, wenn die Rechtsordnung des Mitgliedsstaates bei Amtshaftungsansprüchen die Erhebung eines Rechtsbehelfsverfahrens in den Fällen der offenkundigen Aussichtslosigkeit nicht verlangt?

f) Gebietet es der Grundsatz der Effektivität, die Abänderung eines bestandskräftigen, nicht mit Klage angefochtenen Steuerbescheides zu ermöglichen, wenn die Finanzbehörden den Konkurrenten des Steuerpflichtigen entgegen den Vorschriften des nationalen Steuerrechts für gleiche oder gleichartige Leistungen die Steuerfreiheit gewährten, der Steuerpflichtige aber eine Gleichbehandlung nach der im Besteuerungszeitraum bestehenden gefestigten Rechtsprechung zum nationalen Recht nicht verlangen konnte?”

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Das FG hat zu Recht entschieden, dass das FA den beantragten Billigkeitserlass ermessensfehlerfrei abgelehnt hat (§ 102 FGO).

1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren zu erlassen (§ 227 der AbgabenordnungAO—), wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und es dem Steuerpflichtigen nicht zuzumuten war, sich hiergegen in dem dafür vorgesehenen Festsetzungsverfahren rechtzeitig zu wehren (BFH-Urteile in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, und vom II R 3/06, BFH/NV 2008, 574). Diese Voraussetzungen liegen schon deshalb nicht vor, weil die Entscheidung des FA im Festsetzungsverfahren nicht offensichtlich und eindeutig falsch war, sondern der damaligen Rechtslage entsprach.

a) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers kommt es für diese Beurteilung auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung („Ex-ante-Betrachtung”) und nicht auf einen späteren Zeitpunkt an. Denn ansonsten würde es im Belieben des Steuerpflichtigen stehen, über einen längeren Zeitraum bestandskräftige Steuerverwaltungsakte an etwaige Entwicklungen oder Änderungen der Rechtsprechung anzupassen, was mit dem Sinn und Zweck der Bestandskraft nicht in Einklang zu bringen wäre (EuGH-Urteil i-21 Germany-GmbH in Slg. 2006, I-8559 Leitsatz 2; Bundesverwaltungsgericht in der im Anschluss an das EuGH-Urteil i-21 Germany-GmbH ergangenen abschließenden Entscheidung, Urteil vom   6 C 32.06, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2007, 709). Der Umstand allein, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer im Widerspruch zu einer später entwickelten oder geänderten Rechtsprechung steht, rechtfertigt deshalb keinen Steuererlass nach § 227 AO (BFH-Urteil in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460).

b) Aus den im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Schmeink & Cofreth und Manfred Strobel (Urteil vom Rs. C-454/98, Slg. 2000, I-6973, UR 2000, 470) ergangenen BFH-Urteilen in BFHE 194, 552, BStBl II 2004, 370 und in BFHE 194, 517, BStBl II 2004, 373 ergibt sich nichts anderes. Danach kann die Korrektur einer Steuerfestsetzung wegen unberechtigt ausgewiesener Umsatzsteuer nach § 14 Abs. 3 UStG a.F. dann im Billigkeitsverfahren erfolgen, wenn der Steuerpflichtige die durch den unberechtigten Steuerausweis begründete Gefährdungslage für das Steueraufkommen nach Erteilung der Rechnung und Steuerfestsetzung später wieder vollständig beseitigt hat. Diese Rechtsprechung betraf einen Ausnahmefall (vgl. , BFH/NV 2003, 1531, unter II. 2. b, bb). Mit diesen Entscheidungen hat der BFH auf die vom EuGH geforderte, nach früherer Rechtslage im UStG 1993 fehlende verfahrensmäßige Korrekturmöglichkeit (jetzt § 14c UStG 1999) wegen nachträglich eingetretener Umstände (Gefährdungsbeseitigung) reagiert. Diese Entscheidungen betreffen nicht die Frage, ob bestandskräftig festgesetzte Steuern nach Rechtsprechungsänderungen an diese anzupassen sind.

c) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ergibt sich nichts anderes aus dem EuGH-Urteil „Willy Kempter” in BFH/NV Beilage 2008, 89. Nach diesem Urteil kommt es für die Frage, ob ein infolge eines letztinstanzlichen Urteils bestandskräftig gewordener Verwaltungsakt aufzuheben ist, nicht darauf an, ob sich der Kläger auf einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht berufen hat. Dieser Entscheidung lässt sich jedoch nichts dafür entnehmen, dass es für den Erlass von bestandskräftig festgesetzten Steuern nicht mehr darauf ankommen soll, ob die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig gewesen ist und Verwaltungsakte unabhängig von einem Verschulden des FA der Aufhebung unterliegen. Der EuGH hat vielmehr auch in dieser Entscheidung den Grundsatz betont, dass eine Bestandskraftdurchbrechung nur ausnahmsweise bei besonderen Umständen in Betracht kommt. Die Überprüfung bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte, bei denen der Steuerpflichtige den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hat, ist auch nach dem EuGH-Urteil Willy Kempter in BFH/NV Beilage 2008, 89 auf die Beachtung der Grundsätze der Effektivität und Äquivalenz beschränkt (Kanitz, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht —EuZW— 2008, 231).

d) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers kommt es auch nicht darauf an, inwieweit bei einer Steuerfestsetzung des FA eine Rechtsprechungsänderung absehbar war oder nicht und aus welchen Gründen der Steuerpflichtige —wie im Streitfall im Hinblick auf eine ständige Rechtsprechung des BFH— eine Steuerfestsetzung hat bestandskräftig werden lassen. Denn durch das Rechtsinstitut der Bestandskraft bezweckt der Gesetzgeber den Eintritt der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. Dieser würde wieder vereitelt, wenn die Durchbrechung der Bestandskraft im Wege eines Billigkeitserlasses von der —regelmäßig schwierig zu beurteilenden— Vorhersehbarkeit einer Rechtsprechungsänderung abhängig gemacht würde. Wie der Senat bereits mit Urteil vom V R 51/05 (BFHE 216, 350, BStBl II 2007, 433, m.w.N.) entschieden hat, ist es Sache jedes Steuerpflichtigen, auch bei ständiger Rechtsprechung unter Übernahme des Kostenrisikos seine Chance zur Herbeiführung einer Korrektur durch Einlegung von Rechtsmitteln zu wahren. Entgegen der Auffassung des Klägers rechtfertigt auch der Umstand, dass dessen Prozessbevollmächtigter wegen erfolgloser „Parallelverfahren” eine Klage für wenig aussichtsreich beurteilt hatte, keine andere Beurteilung. Es entspricht vielmehr der Entscheidung des Gesetzgebers, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang haben soll vor der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, wenn ein Steuerbescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers ist bei der Auslegung des § 227 AO zu berücksichtigen (BFH-Urteil in BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460, m.w.N.). Dementsprechend bestimmt § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, dass abgesehen von rechtskräftigen Strafurteilen nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt bleiben.

2. Wie das FG —ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen— zutreffend entschieden hat, waren die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre 1990 und 1991 vom nicht „offensichtlich und eindeutig” rechtswidrig, sondern sie entsprachen der früheren herrschenden Rechtsauffassung (vgl. , BFH/NV 1995, 652). Nach dieser Entscheidung konnte sich ein Einzelunternehmer, der einen ambulanten Pflegedienst betrieb, nicht unmittelbar auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG berufen, weil dieser keine „anerkannte” Einrichtung mit sozialem Charakter sei (vgl. —Mohsche—, Slg. 1993, I-2615, BStBl II 1993, 812) und es außerdem nach Art. 13 Teil A Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG im Ermessen jedes Mitgliedstaates liege, von welchen Bedingungen er die Steuerbefreiung abhängig mache, und die Bundesrepublik von diesem Ermessen erst ab dem Jahre 1992 (in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG 1991) Gebrauch gemacht habe. Zu einer Änderung dieser Rechtsauffassung ist es erst etwa ein Jahr nach der Entscheidung des FA im Festsetzungsverfahren () durch den Vorlagebeschluss des BFH zum EuGH in BFHE 191, 76, BFH/NV 2000, 932 gekommen. Das FA hat somit im Zeitpunkt seiner Entscheidung keine offensichtlich und eindeutig falsche Entscheidung getroffen.

3. Ein Anspruch auf Erlass der Steuerforderungen ergibt sich auch nicht nach den Rechtsgrundsätzen, nach denen der EuGH ausnahmsweise einen Anspruch auf Aufhebung einer bestandskräftigen Steuerfestsetzung für gegeben hält.

a) Mit den Urteilen vom Rs. C-453/00 —Kühne und Heitz— (Slg. 2004, I-837, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 488, DVBl 2004, 373), vom Rs. C-432/05 —Unibet— (Slg. 2007, I-2271) und Willy Kempter in BFH/NV Beilage 2008, 89 hat der EuGH entschieden, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht verpflichtet ist, eine bestandskräftige Entscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder nach Erschöpfung des Rechtsweges bestandskräftig geworden ist. Denn durch Beachtung dieses Grundsatzes solle verhindert werden, dass Verwaltungsakte unbegrenzte Zeit in Frage gestellt werden könnten. Die Verwaltungsbehörde sei jedoch nach dem in Art. 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verankerten Grundsatz der Zusammenarbeit nur bei „besonderen Umständen” (Urteil Willy Kempter in BFH/NV Beilage 2008, 89 Randnr. 38) zur Überprüfung und ggf. Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes verpflichtet, wenn vier Voraussetzungen erfüllt seien:

- Erstens muss die Behörde nach nationalem Recht befugt sein, ihre Entscheidung zurückzunehmen,

- zweitens muss die Entscheidung infolge eines Urteils letzter Instanz bestandskräftig geworden sein („Ausschöpfung des Rechtsweges”),

- drittens muss das Urteil auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruhen, weil sich das Gericht nicht an den EuGH gewandt hat und

- viertens muss ein Antrag auf Aufhebung oder Änderung der bestandskräftigen Entscheidung unmittelbar nach Kenntnis der Entscheidung des EuGH gestellt worden sein, wobei es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Frist näher zu konkretisieren.

Ein gesonderter Aufhebungsanspruch würde vorliegend jedenfalls daran scheitern, dass das innerstaatliche Recht keine Vorschrift zur Korrektur bestandskräftig gewordener Steuerbescheide wegen späterer Änderungen der Rechtsprechung kennt und zudem der Kläger den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hat, somit die Steuerbescheide nicht aufgrund der Verletzung der Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts bestandskräftig geworden sind; denn der Kläger hat gegen die zurückweisende Einspruchsentscheidung keine Klage vor dem FG erhoben (vgl. BFH-Urteil in BFHE 216, 357, BStBl II 2007, 436).

b) Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers ist auch eine Verletzung des in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten „Grundsatzes der Effektivität”, wonach die Ausübung der Gemeinschaftsrechte nicht praktisch unmöglich oder erschwert werden darf (zusammenfassend —Arcor—, EuZW 2008, 319) nicht ersichtlich.

Der Kläger hat nicht vorgetragen, dass ihm kein gerichtlicher Rechtsschutz innerhalb angemessener Fristen zur Verfügung gestanden hätte. Der EuGH hat in seiner Entscheidung i-21 Germany-GmbH in Slg. 2006, I-8559 Randnr. 60 bei einer Klagefrist von einem Monat keinen Verstoß gegen das Effektivitätsprinzip gesehen. Wenn der Kläger im Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft Anfang 1999 im Hinblick auf den BFH-Beschluss in BFH/NV 1998, 224 mit Rücksicht auf die damalige herrschende Rechtsauffassung von einer Klage abgesehen und es unterlassen hat, die Gerichte selbst von einem Verstoß der Steuerfestsetzung gegen das Gemeinschaftsrecht zu überzeugen, nahm er den Eintritt der Bestandskraft —auch für den Fall eines späteren Rechtsprechungswandels— bewusst in Kauf. Der Effektivitätsgrundsatz garantiert dem Kläger eine gerichtliche Rechtsschutzmöglichkeit in angemessener Frist. Er betrifft das Verfahren, nicht jedoch den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung. Wie der EuGH in seinem Urteil i-21 Germany-GmbH in Slg. 2006, I-8559 Randnr. 53 betont, befindet sich ein Steuerpflichtiger, der von seinem Recht, Gebührenbescheide anzufechten, keinen Gebrauch gemacht hat, in einer „völlig anderen Lage” als ein Kläger, der den Rechtsweg ausgeschöpft hat und bei dem das letztinstanzliche Gericht seine Vorlagepflicht verletzt hat.

4. Die Ablehnung des Erlassantrages ist auch nicht im Hinblick auf einen Schadensersatzanspruch wegen eines qualifizierten Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht rechtswidrig, weil die Bundesrepublik Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG erst verspätet (ab 1992) umgesetzt oder weil der BFH zur Klärung von Zweifeln an der Auslegung des Gemeinschaftsrechts die entscheidungserheblichen Rechtsfragen verspätet dem EuGH vorgelegt hätte.

a) Das Gemeinschaftsrecht erkennt einen Entschädigungsanspruch an, sofern drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. —Stockholm Lindöpark—, Slg. 2001, I-493, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht —UVR— 2001, 108 Randnr. 37; Köbler in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331, m.w.N.; Traghetti in Slg. 2006, I-5177). Nach der Rechtsprechung des EuGH ist ein Verstoß als hinreichend qualifiziert anzusehen, wenn ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Rechtsetzungsbefugnis deren Grenzen offenkundig und erheblich überschritten hat (z.B. EuGH-Urteil Stockholm Lindöpark in Slg. 2001, I-493, UVR 2001, 108 Randnr. 39) oder ein letztinstanzliches Gericht offenkundig gegen geltendes Recht verstoßen hat (z.B. EuGH-Urteil Traghetti in Slg. 2006, I-5177 Randnrn. 32 f.). Bei der Frage, ob ein qualifizierter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte des Einzelfalls zu berücksichtigen. Zu diesen Gesichtspunkten gehören u.a. das Maß an Klarheit und Präzision der verletzten Vorschrift, die Vorsätzlichkeit des Verstoßes und die Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums.

b) Diese Voraussetzungen waren im Streitfall nicht erfüllt. Die Vorgaben in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG waren jedenfalls bis zum Ergehen des EuGH-Urteils Gregg in Slg. 1999, I-4947, UR 1999, 419 nicht in der Weise eindeutig, dass auch eine natürliche Person —wie hier der Kläger als Einzelunternehmer in den Jahren 1990 und 1991— die Befreiung der hier streitigen Leistungen hätte beanspruchen können. Vielmehr hat der EuGH im Urteil Bulthuis-Griffioen in Slg. 1995, I-2341 Randnr. 21, UR 1995, 476 ausdrücklich entschieden, dass eine natürliche Person —wie hier der Kläger— nicht in den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG fällt, und diese Auffassung erst im Urteil Gregg in Slg. 1999, I-4947, UR 1999, 419 mit der Maßgabe geändert, dass der Begriff der Einrichtung natürliche Personen von der Befreiung nicht ausschließt. Deshalb fehlt es sowohl hinsichtlich der Umsetzung des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG als auch hinsichtlich eines nach Ansicht des Klägers verspäteten Vorabentscheidungsersuchens an einem offensichtlichen und erheblichen „Verkennen” gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Des Weiteren steht einem Schadensersatzanspruch auch entgegen, dass der Kläger den nach nationalem Recht möglichen Rechtsweg gegen eine seiner Ansicht nach rechtswidrige Verwaltungsentscheidung, der auch die Durchsetzung der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte ermöglicht (vgl. z.B. EuGH-Urteile Köbler in Slg. 2003, I-10239, DB 2003, 2331, m.w.N.; Traghetti in Slg. 2006, I-5177 Randnrn. 31 f.), nicht ausgeschöpft hat.

5. Schließlich liegt der behauptete Verfahrensfehler nicht vor. Er ist nicht darin zu sehen, dass das FG den Verfasser der Bescheinigung der .verwaltung vom nicht dazu als Zeugen vernommen hat, dass der Kläger spätestens seit 1988 dieselben Tätigkeiten wie die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vorgenommen habe. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung einer Ermessensentscheidung ist der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier der Einspruchsentscheidung vom , zu dem die Bescheinigung noch nicht erstellt war. Im Übrigen hat der Kläger auch nicht —wie erforderlich— vorgetragen, dass er den Verfahrensfehler in der mündlichen Verhandlung gerügt habe (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. Urteil vom IV R 299/83, BFHE 157, 106, BStBl II 1989, 727, und , BFH/NV 1998, 608).

6. Der Senat sieht keinen Anlass, wegen Zweifelsfragen des Gemeinschaftsrechts die vom Kläger hilfsweise genannten Fragen dem EuGH vorzulegen, da er diese als geklärt ansieht.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2008 S. 1889 Nr. 11
HFR 2008 S. 1210 Nr. 12
NWB-Eilnachricht Nr. 43/2008 S. 5
GAAAC-91423