Bayerisches Landesamt für Steuern - S 0338 - 4 St 41M

Vorläufige Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO im Hinblick auf anhängige Musterverfahren

1. Allgemeines

Das Verfahren zur Anbringung von Vorläufigkeitsvermerken ist im geändert durch geregelt.

2. Vorläufigkeitsvermerke gemäß dem

Festsetzungen der Einkommensteuer sind hinsichtlich folgender Punkte gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig vorzunehmen:

  1. Anwendung des § 9 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Satz 3 letzter Halbsatz EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 2007 (Entfernungspauschale)

  2.  
    1. Beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG) – für Veranlagungszeiträume vor 2005

    2. Beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3, 4, 4a EStG) – für Veranlagungszeiträume ab 2005

  3. Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG

  4. Besteuerung der Einkünfte aus Leibrenten im Sinne des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG für Veranlagungszeiträume ab 2005

  5. Anwendung des § 24b EStG (Entlastungsbetrag für Alleinerziehende) für Veranlagungszeiträume ab 2004

  6. Anwendung des § 32 Abs. 7 EStG (Haushaltsfreibetrag) für die Veranlagungszeiträume 2002 und 2003

  7. Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 1 ist sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen sowie sämtlichen Bescheiden über die gesonderte (und ggf. einheitliche) Feststellung von Einkünften für Veranlagungszeiträume ab 2007 beizufügen. In diesen Fällen ist abweichend von Abschnitt IV des (BStBl. 2005 I S. 794) bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen auf Antrag des Steuerpflichtigen Aussetzung der Vollziehung zu gewähren (vgl. . Der Vorläufigkeitsvermerk umfasst auch die Frage, ob die Höhe der Entfernungspauschale verfassungsgemäß ist. Er umfasst auch mittelbare Wirkungen, wie beispielsweise bei der Prüfung des Überschreitens von Einkunftsgrenzen (z.B. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG).

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 2 umfasst auch die beschränkte Abziehbarkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen. Er deckt unter den Voraussetzungen der Tz. 4 dieser Karteikarte des weiteren die in den Verfassungsbeschwerden 2 BvR 587/01 und 2 BvR 912/03 erhobene Frage ab, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, auch im Falle der Zusammenveranlagung die vorzunehmende Kürzung des gemeinsamen Vorwegabzugs ggf. der Höhe nach auf den (hälftigen) Anteil desjenigen Ehegatten zu beschränken, der im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses durch vorwegabzugsschädliche Arbeitgeberteistungen begünstigt worden ist (vgl. , BStBl 2006 II S. 858 unter Tz 2b/bb der Gründe).

Der Vorläufigkeitsvermerk gem. Nummer 2 Buchstabe b umfasst auch die Frage, ob die angeführten gesetzlichen Vorschriften aufgrund der Neureglung der Rentenbesteuerung durch das Alterseinkünftegesetz verfassungswidrig sind.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 3 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen für Veranlagungszeiträume vor 2005 beizufügen. Der Vorläufigkeitsvermerk umfasst unter den Voraussetzungen der Tz. 4 dieser Karteikarte auch die anhängige Verfassungsbeschwerde 2 BvR 325/07 gegen das (BFH/NV 2007 S. 552).

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 4 erfasst sämtliche Leibrentenarten im Sinne des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a Doppelbuchstabe aa EStG.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 5 umfasst nur die Frage, ob § 24b EStG Ehegatten in verfassungswidriger Weise benachteiligt. Er ist daher Einkommensteuerfestsetzungen nur beizufügen, wenn ein Fall des § 26 Abs. 1 EStG und der Prüfung der Steuerfreistellung nach § 31 EStG vorliegt.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 6 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen mit einer Prüfung der Steuerfreistellung nach § 31 EStG beizufügen. Er umfasst sowohl die Frage, ob die Abschmelzung des Haushaltsfreibetrags (§ 32 Abs. 7 EStG, ggf. in Verbindung mit § 52 Abs. 40a EStG) verfassungswidrig ist, als auch die Frage, ob § 32 Abs. 7 EStG Ehegatten in verfassungswidriger Weise benachteiligt.

Der Vorläufigkeitsvermerk gemäß Nummer 7 ist im Rahmen der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten sämtlichen Einkommensteuerfestsetzungen sowie sämtlichen Bescheiden über die gesonderte (und ggf. einheitliche) Feststellung von Einkünften beizufügen. Aufgrund einer personellen Anweisung kann er auch Körperschaftsteuerfestsetzungen beigefügt werden.

Ferner sind Festsetzungen des Solidaritätszuschlags hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 vorläufig vorzunehmen.

3. Erledigte Verfahren

Vgl. hierzu die Liste der erledigten Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO.

4. Umfang der Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO

Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens vor dem EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht (BFH) ist.

Somit ergibt sich die Reichweite eines sog. Katalogvorläufigkeitsvermerks bereits aus der gesetzlichen Vorgabe des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO: der Vorläufigkeitsvermerk kann nur Musterverfahren erfassen, bei denen es um die Frage der Konformität eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz oder den europäischen Verträgen geht, nicht aber um sog. einfachgesetzliche Fragen. Für die Entscheidung, ob es sich bei dem BFH-Verfahren um ein Verfahren mit ausschließlich einfachgesetzlicher Problematik handelt, ist auf die vom BFH formulierte Rechtsfrage abzustellen.

Der (X R 9/05, BStBl 2006 II S. 858) darüber hinaus die Auffassung vertreten, dass Verfassungsbeschwerden, in denen die Verletzung der Grundrechte durch die vorangegangene Entscheidung des BFH gerügt wird, ebenfalls vom Vorläufigkeitsvermerk erfasst werden.

Bereits mit Rechentermin wurden die Vorgabe des umgesetzt, wonach bei den Erläuterungen zu Grund und Umfang des Vorläufigkeitsvermerks nicht mehr ausdrücklich auf die anhängigen Musterverfahren Bezug genommen wird („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist im Hinblick auf vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesfinanzhof bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Verfahren vorläufig hinsichtlich …), sondern lediglich auf die gesetzliche Berechtigung für den Vorläufigkeitsvermerk („Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich. …”) hingewiesen wird. Das (a.a.O.), wonach nur einschlägige Musterverfahren nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vom Vorläufigkeitsvermerk umfasst werden können, die im Zeitpunkt der Bescheidbekanntgabe anhängig waren, kann seitdem nicht mehr zur Auslegung der Reichweite des Vorläufigkeitsvermerk herangezogen werden. Vielmehr sind bei diesen Bescheiden alle einschlägigen Musterverfahren von dem Vorläufigkeitsvermerk umfasst, unabhängig davon, ob sie vor oder nach Bekanntgabe des Steuerbescheids anhängig wurden.

Bei den Steuerbescheiden, die vor dem gerechnet wurden, ist bei der Prüfung, ob das einschlägige Musterverfahren vom Vorläufigkeitsvermerk mit umfasst ist, darauf abzustellen, wann dieses beim BFH anhängig geworden ist. Bei anhängigen Verfassungsbeschwerden ist ebenfalls auf den Zeitpunkt des Anhängigwerdens beim BFH abzustellen. Stellt sich dabei heraus, dass bestimmte Musterverfahren erst nach der Wirksamkeit des Steuerbescheids beim BFH anhängig wurden, kann während eines laufenden Einspruchsverfahrens durch Bescheidänderung nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a bzw. § 164 Abs. 2 AO der Umfang der Vorläufigkeit durch maschinelle Einsteuerung des Textes „Die Festsetzung der Einkommensteuer ist gem. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig hinsichtlich …” erweitert werden.

Folgende BFH-Urteile, die für die Steuerpflichtigen günstige Auswirkungen hatten, können unter Bezugnahme auf einen Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt werden, weil in diesen der BFH nur über sog. einfachgesetzliche Fragen entschieden hat.

Zur verfahrensrechtlichen Behandlung bei unzutreffenden Auskünften des Finanzamts über den Umfang des Vorläufigkeitsvermerks vgl. Tz 6.

5. Rechtsschutzbedürfnis bei Steuerfestsetzungen mit Vorläufigkeitsvermerk

Gem. AEAO zu § 350. Nr. 6 fehlt Einsprüchen, mit denen ausschließlich die angebliche Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm gerügt wird, grundsätzlich das Rechtsschutzbedürfnis, wenn das Finanzamt spätestens im Einspruchsverfahren den angefochtenen Verwaltungsakt hinsichtlich des strittigen Punktes für vorläufig erklärt hat (, BStBl 1994 II S. 119 und , BStBl 1996 II S. 506).

Eine Beschwer ist jedoch dann gegeben, wenn

  • der Einspruchsführer zu erkennen gibt, dass er vor Abschluss des Musterverfahrens seinen Fall an das BVerfG herantragen will,

  • ausnahmsweise eine Aussetzung der Vollziehung in Betracht kommt oder

  • ein Steuerpflichtiger davon ausgeht, dass eine Steuerfestsetzung durch den Vorläufigkeitsvermerk nicht „offen gehalten” wird.

Kommt eine Aussetzung der Vollziehung in Betracht, sind abweichend von Abschnitt II 2 des (BStBl 2005 I S. 794) einschlägige Einsprüche nicht zurückzuweisen, sondern ruhen zu lassen, falls nicht der Steuerpflichtige ausdrücklich eine Einspruchsentscheidung begehrt.

6. Folgen einer unzutreffenden Auskunft des Finanzamts zum Umfang des Vorläufigkeitsvermerks

Hat das Finanzamt gegenüber dem Steuerpflichtigen durch Äußerungen den unzutreffenden Eindruck erweckt, aufgrund eines Vorläufigkeitsvermerks könne der Einkommensteuerbescheid (zu seinen Gunsten) geändert werden, falls der BFH bei „einfachgesetzlichen” Fragen gegen die Verwaltungsmeinung entscheiden sollte, und

  • hat der Steuerpflichtige daher von der Einlegung eines Einspruchs abgesehen,

  • einen bereits eingelegten Einspruch zurückgenommen oder

  • hat das Finanzamt einen eingelegten Einspruch mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig verworfen,

ist wie folgt zu verfahren:

Soweit der Steuerpflichtige von der Einlegung eines Einspruchs abgehalten worden und die Jahresfrist im Sinne des § 110 Abs. 3 AO noch nicht abgelaufen ist, ist dem Steuerpflichtigen zur Eröffnung der Einspruchsmöglichkeit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zu gewähren.

Bei einer durch eine „irreführende Äußerung” bewirkten Einspruchsrücknahme ist die Unwirksamkeit der Einspruchsrücknahme festzustellen und das Rechtsbehelfsverfahren fortzusetzen, falls dem nicht der Ablauf der Jahresfrist gem. § 362 Abs. 2 Satz 2 AO entgegensteht.

Soweit die vorgenannten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten nicht bestehen, ist der vorläufige Einkommensteuerbescheid im Billigkeitswege (abweichende Steuerfestsetzung gem. § 163 AO) an die geänderte Rechtsprechung anzupassen.

Hinweis:

Die bisherige Karte 1 (Kontroll-Nr. 13/2007) ist auszureihen.

Bayerisches Landesamt für Steuern v. - S 0338 - 4 St 41M

Fundstelle(n):
TAAAC-75972