BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 51/05

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 1; GG Art. 2 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4 Satz 1; GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: VG Oldenburg 4 A 808/02 vom

Gründe

5. Den hiergegen gerichteten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom - 5 LA 51/04 - mit der Begründung ab, der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG sei nicht hinreichend dargelegt. Zudem sei die Zulassung der Berufung auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil es sich bei den mit dem Zulassungsantrag aufgeworfenen Fragen um solche Fragen handele, die nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, also nicht grundsätzlich, zu beantworten seien. Das gelte "insbesondere" hinsichtlich der Frage, ob dem Beschwerdeführer wegen Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei.

II.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 103 Abs. 1 GG sowie des Rechts auf ein faires Verfahren und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Es könne nicht angehen, dass ein Inhaftierter dafür Sorge tragen müsse, dass ihn seine Post erreiche. Hieran sei er geradezu infolge höherer Gewalt gehindert, da er nicht an die Pforte gehen könne, um seine Post entgegenzunehmen. Es könne ihm auch nicht auferlegt werden, den ordnungsgemäßen Erhalt seiner Post durch Bevollmächtigung Dritter zu gewährleisten, wenn er über diese Verpflichtung nicht oder nur in einem anderen, vorangegangenen Verfahren ohne Übersetzung in seine Heimatsprache belehrt worden sei.

Das Niedersächsische Justizministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.

III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihr, da die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG vorliegen, mit der Rechtsfolge gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des sinngemäß als verletzt gerügten Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Wird ein Prozessbeteiligter mit entscheidungserheblichem Vorbringen deshalb ausgeschlossen, weil ihm bei fristgebundenen Rechtsbehelfen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus Gründen verwehrt wird, die er nicht zu vertreten hat, so ist sein Anspruch auf effektiven Zugang zu Gericht betroffen (vgl. u.a. -, NVwZ 1992, S. 1080). Das Grundgesetz überlässt zwar die Ausgestaltung der Art und Weise, in der der grundrechtlich gebotene effektive Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) zu gewähren ist, der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen, einschließlich der gesetzlichen Voraussetzungen dafür, dass über den mit einer Klage unterbreiteten Sachverhalt überhaupt zur Sache entschieden werden darf, dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den dem Rechtssuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren. Insbesondere dürfen die Anforderungen daran, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 110, 339 <342>). Diesen Grundsatz hat das Verwaltungsgericht verletzt.

Der Begriff der höheren Gewalt in § 60 Abs. 3 VwGO ist zwar enger als der Begriff "ohne Verschulden" in § 60 Abs. 1 VwGO. Er erfasst jedoch nicht nur Ereignisse, die menschlicher Steuerung völlig entzogen sind. Vielmehr entspricht er im Wesentlichen dem Begriff der "unabwendbaren Zufälle" in der bis zum geltenden Fassung des § 233 ZPO. Unter höherer Gewalt ist danach ein Ereignis zu verstehen, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falles vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe - also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung - zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. BVerwGE 105, 288 <300>; -, JURIS; 9 C 7.85 - InfAuslR 1985, S. 278 <280 f.>; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozessordnung, Band 1, 33. Auflage 1975, § 233 ZPO, S. 459; zur Notwendigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des Begriffs der höheren Gewalt vgl. BVerfGE 71, 305 <348>).

Auch und gerade nach dem Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts, wonach die Fiktion einer wirksamen Zustellung gemäß § 10 Abs. 2 Satz 2 oder Satz 3 AsylVfG selbst in den Fällen eintritt, in denen die Zustellung infolge eines außerhalb der Sphäre des Adressaten liegenden Umstandes fehlschlägt (anders etwa VGH Mannheim, Beschluss vom - A 14 S 2542/95 -, JURIS), war ein dem entsprechendes Verständnis des Begriffs der höheren Gewalt verfassungsrechtlich geboten. Die Betroffenen könnten andernfalls in einer mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Garantie effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbaren Weise - selbst durch grobe, den Eintritt der Zustellungsfiktion bewirkende Fehlhandlungen Dritter - um die Durchsetzbarkeit ihrer Rechte gebracht werden. Im vorliegenden Fall musste es demnach darauf ankommen, ob die Erfolglosigkeit der Zustellung des Widerrufsbescheides von dem Beschwerdeführer bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte vermieden werden können. Mit dem zentralen Vorbringen des Beschwerdeführers, die organisatorischen Vorkehrungen der Poststelle seiner Haftanstalt unterlägen nicht seinem Einfluss, hat sich das Verwaltungsgericht indessen nicht auseinandergesetzt. Soweit das Gericht dem Beschwerdeführer entgegengehalten hat, der ihm zumutbaren Sorgfalt hätte es entsprochen, für verfahrenskundige Beratung und Vertretung zu sorgen, weil er mit seinem Aufenthalt im Iran den Grund für den Widerruf selbst gesetzt und daher mit dem Widerruf habe rechnen müssen, fehlt es an einem Bezug zu der allein entscheidungserheblichen Frage, ob der Beschwerdeführer den Fehlschlag der konkret unternommenen Zustellung - nämlich der Zustellung unter seiner Anstaltsanschrift - hätte vermeiden können. Dafür war nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nichts ersichtlich.

IV.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Fundstelle(n):
NJW 2008 S. 429 Nr. 7
NAAAC-61954