BFH Urteil v. - III R 67/06

Antrag auf schlichte Änderung; Bindung eines die Kindergeldfestsetzung aufhebenden Bescheids bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids

Gesetze: AO § 172 Abs. 1, EStG § 32 Abs. 4, EStG § 70 Abs. 4

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hat eine im Jahr 1985 geborene Tochter, die sich im Jahr 2005 in Ausbildung befand.

Mit Bescheid vom hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter ab Januar 2005 auf, da deren Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2005 von 7 680 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des EinkommensteuergesetzesEStG— in der für das Jahr 2005 geltenden Fassung) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Am beantragte der Kläger unter Hinweis auf den (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) erneut die Festsetzung von Kindergeld ab Januar 2005. Das BVerfG hatte dort entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes. Mit Bescheid vom setzte die Familienkasse daraufhin für den Zeitraum Juni bis November 2005 Kindergeld fest. Für die Monate Januar bis Mai 2005 lehnte sie die Festsetzung von Kindergeld ab, da mit dem Bescheid vom die Kindergeldfestsetzung bestandskräftig aufgehoben worden und die Familienkasse an diese Entscheidung gebunden sei. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.

Im finanzgerichtlichen Verfahren machte der Kläger geltend, der Bescheid vom sei nicht bestandskräftig geworden, da er am telefonisch bei der Familienkasse unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 beantragt habe, Kindergeld für seine Tochter festzusetzen. Ferner habe der Kläger die Familienkasse vor Ablauf der Einspruchsfrist bei einer persönlichen Vorsprache aufgefordert, den Bescheid vom aufzuheben. Die Familienkasse hätte ihn deshalb aufklären müssen, wie er wirksam Einspruch einlegen könne.

Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom , dem Kläger für die Monate Januar bis Mai 2005 Kindergeld zu gewähren. Es führte im Wesentlichen aus, die Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom stehe einer Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum nicht entgegen, da der Bescheid nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren sei. Nicht entscheidungserheblich sei deshalb der Vortrag des Klägers, er habe innerhalb der Einspruchsfrist telefonisch und persönlich gegenüber der Familienkasse deutlich gemacht, er sei mit dem Bescheid vom nicht einverstanden.

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.

Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

1. Entgegen der Auffassung des FG ist der Bescheid vom nicht nach § 70 Abs. 4 EStG aufzuheben. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag —wie im Streitfall— allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur dann die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben (Senatsurteil vom III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).

2. Für die Entscheidung kommt es deshalb darauf an, ob der Kläger —wie er im finanzgerichtlichen Verfahren vortrug— am telefonisch bei der Familienkasse unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 die Festsetzung von Kindergeld für seine Tochter beantragt bzw. die Familienkasse bei einer persönlichen Vorsprache innerhalb der Einspruchsfrist zur Aufhebung des Bescheids vom aufgefordert hatte. Hierzu hat das FG bisher nichts festgestellt, weil nach seiner Rechtsauffassung der Vortrag des Klägers nicht entscheidungserheblich war.

Hätte der Kläger tatsächlich am , mithin innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO), telefonisch bei der Familienkasse unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 die Festsetzung von Kindergeld für seine Tochter beantragt, wäre dies als —nicht formgebundener (hierzu z.B. , BFHE 197, 114, BStBl II 2006, 223, m.w.N.) und hinreichend konkretisierter (vgl. hierzu , BFH/NV 2007, 994, und vom XI R 17/93, BFHE 172, 493, BStBl II 1994, 439, jeweils m.w.N.)— Antrag auf schlichte Änderung zu werten, so dass der Bescheid vom gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO aufgehoben werden könnte. In diesem Sinn könnte auch eine persönliche Vorsprache des Klägers innerhalb der Einspruchsfrist zu beurteilen sein. Als Einspruch könnte das Verhalten des Klägers nicht gewertet werden, weil ein Einspruch nach § 357 Abs. 1 FGO schriftlich einzureichen ist.

§ 44 Abs. 1 FGO stünde der Zulässigkeit der Klage nicht entgegen, da auch hinsichtlich des (angeblichen) Antrags auf schlichte Änderung dem finanzgerichtlichen Verfahren ein für den Kläger erfolgloses behördliches Vorverfahren vorausgegangen wäre. Im Streitfall war der erkennbare Wille des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2005 und damit auch auf Aufhebung des —diesem Begehren entgegenstehenden— Bescheids vom gerichtet. Dieser Wille würde eine Aufhebung des Bescheids nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO mit umfassen. Den Antrag auf schlichte Änderung hätte die Familienkasse im Einspruchsverfahren dann übergangen, da sie in der Einspruchsentscheidung hierzu nicht Stellung genommen hat. Auch durch eine unvollständige Rechtsbehelfsentscheidung wird aber das außergerichtliche Vorverfahren in der nach dem Gesetz erforderlichen Weise förmlich abgeschlossen (, BFHE 196, 400, BStBl II 2002, 176, m.w.N.).

Kommt das FG bei erneuter Verhandlung und Entscheidung zu dem Ergebnis, dass der Kläger das behauptete Telefongespräch nicht geführt und auch nicht bei der Familienkasse vorgesprochen hat, kann wegen der Bestandskraft des Aufhebungsbescheids vom kein Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2005 festgesetzt werden.

Die Familienkasse hat mit diesem Bescheid die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2005 aufgehoben, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2005 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende Mai 2005 (vgl. , BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).

Die Bestandskraft des Bescheids vom wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt (Senatsurteil vom III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.). Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 2063 Nr. 11
BFH/NV 2007 S. 2063 Nr. 11
VAAAC-58367