BFH Urteil v. - I R 64/06

Wohnsitz im steuerrechtlichen Sinne; Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung; keine Beweiserhebung bei Wahrunterstellung

Gesetze: AO § 8, EStG § 26 Abs. 1, FGO § 76

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob im Streitjahr (1999) erzielte Einkünfte des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) der deutschen Einkommensteuer unterliegen.

Die Kläger sind Eheleute und haben zwei 1984 und 1986 geborene Kinder. Sie wohnten seit 1994 zunächst in einem beiden je zur Hälfte gehörenden Haus im Bundesland X. Für dieses Haus machten sie letztmalig für das Jahr 2002 den Abzugsbetrag nach § 10e des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Die Klägerin wohnt weiterhin in diesem Haus; in welchem Umfang der Kläger im Streitjahr ebenfalls dort gewohnt hat, ist zwischen den Beteiligten streitig.

Der Kläger besaß im Streitjahr im Inland einen Gewerbebetrieb. Außerdem betrieb er in Polen ein Einzelunternehmen, das den Namen M führte, sowie ein weiteres Unternehmen in der Rechtsform einer beschränkt haftenden Gesellschaft. Die Firma M erwirtschaftete im Streitjahr einen Gewinn in Höhe von 385 527 DM; ihre Gewinn- und Verlustrechnung weist Handelsumsätze in Höhe von 5 516 290 Zloty, Finanzerträge in Höhe von 15 965 027 Zloty und „sonstige Erträge” in Höhe von 425 768 Zloty aus. Nach dem Vortrag des Klägers beruht der Betrag von 15 965 027 Zloty auf einer Mehrfacherfassung von Einnahmen; richtigerweise belaufen sich nach dieser Darstellung die Finanzerträge nur auf 579 188 Zloty.

In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr behandelten die Kläger die Einkünfte des Klägers aus der Firma M als unter Progressionsvorbehalt steuerfrei. Dem folgte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) nicht; er erließ einen Steuerbescheid, in dem die Kläger zusammen zur Einkommensteuer veranlagt und die genannten Einkünfte in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer einbezogen wurden. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Finanzgericht (FG) abgewiesen (); sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2006, 1490 abgedruckt.

Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie beantragen, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung des FA aufzuheben und

- den angefochtenen Steuerbescheid dahin zu ändern, dass der Kläger als beschränkt Steuerpflichtiger besteuert wird,

- hilfsweise, die Sache an das FG zurückzuverweisen,

- äußerst hilfsweise, den Steuerbescheid dahin zu ändern, dass bei der Festsetzung der Einkommensteuer die Einkünfte des Klägers aus der Tätigkeit in Polen nur im Rahmen des Progressionsvorbehalts berücksichtigt werden.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Dieses hat zwar zu Recht entschieden, dass der Kläger im Streitjahr der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht unterlegen hat. Es hat jedoch nicht geprüft, ob der angefochtene Bescheid deshalb rechtswidrig ist, weil der Kläger und die Klägerin einzeln zur Einkommensteuer hätten veranlagt werden müssen.

1. Der Kläger war im Streitjahr unbeschränkt steuerpflichtig.

a) Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz haben, unbeschränkt steuerpflichtig. Der „Wohnsitz” im Sinne dieser Vorschrift wird durch § 8 der Abgabenordnung (AO) definiert. Danach hat einen Wohnsitz jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die auf deren Beibehaltung und Benutzung schließen lassen.

b) Hierzu hat das FG im Streitfall festgestellt, dass der Kläger im Streitjahr Miteigentümer einer im Inland belegenen Wohnung war und dass er diese Wohnung gelegentlich und mit einiger Regelmäßigkeit genutzt hat. Es hat den von ihm festgestellten Sachverhalt ferner dahin gewürdigt, dass der Kläger sich nicht nur besuchsweise in der genannten Wohnung aufgehalten, sondern diese weiterhin „als eigene” genutzt habe; dazu hat es vor allem auf den Umfang der Nutzung, auf das fortbestehende Hausrecht des Klägers und auf die Anwesenheit der Kinder in der Wohnung verwiesen. Diese Würdigung ist verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen allgemeine Erfahrungssätze und ist deshalb für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO).

Die Kläger rügen in diesem Zusammenhang zwar, dass das FG es versäumt habe, die von ihnen —den Klägern— als Zeugin benannte U zu vernehmen. Diese Rüge geht jedoch fehl. Denn das FG ist zwar verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 Abs. 1 FGO), und muss dabei insbesondere einem zulässigerweise gestellten Beweisantrag grundsätzlich nachgehen. Es darf von einer beantragten Beweiserhebung aber u.a. dann absehen, wenn es den unter Beweis gestellten Vortrag als wahr unterstellt (Senatsbeschluss vom I B 47/04, BFH/NV 2006, 746; Seer in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 81 FGO Rz 47, m.w.N.). So ist das FG im Streitfall verfahren: Es ist davon ausgegangen, dass der Kläger —wie durch das Zeugnis der U unter Beweis gestellt— im Streitjahr stets im Gästezimmer der Wohnung übernachtet hat, und hat sich auf dieser Basis eine Überzeugung von den seinerzeit vorliegenden Verhältnissen gebildet. Dabei ist es zu dem Schluss gelangt, dass zwar die Ehe der Kläger seit dem Jahr 1998 als gescheitert anzusehen sei, die Kläger aber gleichwohl im Streitjahr „im gemeinsamen Haus getrennt gelebt haben”. Diese Würdigung beruht mithin entgegen der Ansicht der Revision nicht auf einer unzulässigen Vorwegnahme der Beweiswürdigung, sondern auf einer zulässigen Wahrunterstellung. Soweit die Revision schließlich vorträgt, dass die Zeugin U ihrerseits auf eine Aufgabe der Wohnung durch den Kläger geschlossen habe und dies im Rahmen ihrer Vernehmung hätte bestätigen können, zeigt sie damit ebenfalls keinen Verfahrensfehler auf: Unabhängig davon, ob es in diesem Zusammenhang auf das Empfinden der U überhaupt ankommen kann, war dieses Empfinden ausweislich des angefochtenen Urteils nicht unter Beweis gestellt; ein „Übergehen” eines Beweisantrags kann deshalb insoweit nicht gegeben sein.

c) Hat aber der Kläger —wie vom FG festgestellt— die inländische Wohnung im Streitjahr weiterhin „als eigene” genutzt, so erfüllt diese Wohnung die Merkmale eines „Wohnsitzes” i.S. des § 8 AO. Das gilt auch dann, wenn der Kläger sich in jenem Zeitraum zumeist in Polen aufgehalten haben sollte. Denn das Vorliegen eines Wohnsitzes setzt weder einen ständigen (Senatsurteil vom I R 40/97, BFHE 187, 544, BStBl II 1999, 207) noch einen zeitlich überwiegenden Aufenthalt an dem betreffenden Ort voraus. Ein ausschließlich geschäftlich motiviertes oder nur besuchsweises Aufsuchen der Wohnung, das für einen Fortbestand des Wohnsitzes nicht ausreicht (Buciek in Beermann/Gosch, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 8 AO Rz 27, m.w.N.), liegt nach den Feststellungen des FG nicht vor.

2. Gleichwohl muss die Revision im Ergebnis Erfolg haben. Denn nach den vom FG getroffenen Feststellungen ist davon auszugehen, dass die Kläger für das Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden sind. Ob die Voraussetzungen hierfür vorliegen, lässt sich dem angefochtenen Urteil indessen nicht entnehmen.

a) Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EStG können unbeschränkt steuerpflichtige Ehegatten (nur) dann zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden, wenn sie entweder zu Beginn oder im weiteren Verlauf des Veranlagungszeitraums nicht dauernd getrennt gelebt haben. Im Fall des dauernden Getrenntlebens während des gesamten Veranlagungszeitraums muss jeder Ehegatte einzeln veranlagt werden.

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) leben Ehegatten „nicht dauernd getrennt” i.S. des § 26 EStG, wenn zwischen ihnen eine eheliche Lebensgemeinschaft besteht. Diese setzt wenigstens das Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft und das Streben nach einer darüber hinausgehenden persönlichen Gemeinschaft voraus (, BFH/NV 2002, 484; Schmidt/Seeger, Einkommensteuergesetz, 26. Aufl., § 26 Rz 10; Tormöhlen in Korn, Einkommensteuergesetz, § 26 Rz 13, m.w.N.). Ob das im Streitjahr vorhandene Verhältnis zwischen den Klägern diesen Anforderungen gerecht wird, lässt sich anhand der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen.

Denn ausweislich des angefochtenen Urteils hat das FG zwar die Überzeugung gewonnen, dass „die Kläger spätestens ab dem Jahreswechsel 1997/98 im gemeinsamen Haus getrennt gelebt haben” und „dass die Ehe der Kläger ab dem Jahr 1998 als gescheitert angesehen werden muss”. Jedoch hat das FG im Ergebnis die vom FA vorgenommene Zusammenveranlagung für rechtmäßig erachtet. Angesichts dessen lässt sich dem Urteil nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen, ob das FG die Problematik des § 26 EStG in seine Betrachtung einbezogen hat und aus welchen Gründen es ggf. vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung ausgegangen ist. Ebenso sieht der Senat keine Möglichkeit, diese Frage unmittelbar im Revisionsverfahren abschließend zu beurteilen; immerhin beziehen sich die zitierten Ausführungen des FG ausschließlich auf den Streit über den inländischen Wohnsitz des Klägers, und es erscheint nicht ausgeschlossen, dass im Zusammenhang mit der Frage nach der Veranlagungsart weitere Überlegungen hinzutreten müssen. Angesichts dessen muss die insoweit notwendige einzelfallbezogene Gesamtwürdigung (, BFH/NV 1998, 585) dem FG überlassen bleiben, was es erforderlich macht, den Rechtsstreit an dieses zurückzuverweisen.

3. Die Zurückverweisung scheitert nicht daran, dass eine etwa notwendige Einzelveranlagung für den Kläger unter Umständen zu einer höheren Steuerbelastung führen kann als der angefochtene Bescheid. Denn die Einzelveranlagung stellt im Verhältnis zur Zusammenveranlagung ein wesensverschiedenes Veranlagungsverfahren dar, weshalb der Übergang von der einen zur anderen Veranlagungsform nicht durch eine Änderung des ursprünglichen Steuerbescheids, sondern nur im Rahmen eines selbständigen Veranlagungsverfahrens erfolgen kann (, BFHE 206, 201, BStBl II 2004, 980). Das bedeutet für den Streitfall, dass ein Fehlen der Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung der Kläger zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids führen müsste. Eine dahin gehende Entscheidung würde für beide Kläger zu einer Verminderung der derzeit festgesetzten Steuer führen. Damit würde durch das unmittelbare Ergebnis des Verfahrens die Rechtsposition des Klägers nicht verschlechtert. Allein eine solche unmittelbar durch die gerichtliche Entscheidung selbst ausgelöste Erhöhung der Steuer wird jedoch durch das Verböserungsverbot (vgl. dazu Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 96 FGO Rz 101) ausgeschlossen; ob im weiteren Verlauf das FA erneut Steuerbescheide gegen die Kläger erlassen könnte und welchen Inhalt diese Bescheide ggf. haben könnten, spielt insoweit keine Rolle.

4. Beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens hält der Senat es nicht für zweckmäßig, zu der zwischen den Beteiligten streitigen abkommensrechtlichen Situation Stellung zu nehmen. Denn diese Frage wird sich im vorliegenden Verfahren letztlich nicht stellen, wenn sich ergeben sollte, dass der angefochtene Bescheid aus anderen Gründen aufgehoben werden muss. Sie wird daher erst dann zu beantworten sein, wenn über die im Streitfall zutreffende Veranlagungsart Klarheit herrscht.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2007 S. 1893 Nr. 10
EStB 2007 S. 405 Nr. 11
HFR 2007 S. 1204 Nr. 12
DAAAC-54128