BAG Urteil v. - 10 AZR 35/06

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: BGB § 242; BGB § 611

Instanzenzug: ArbG München 14 Ca 4077/04 vom LAG München 2 Sa 408/05 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin den Anspruch auf eine übertarifliche Qualifikationszulage verwirkt hat.

Die Klägerin war bei der Beklagten und ihrer Rechtsvorgängerin seit dem als Ärztin im Arbeitsmedizinischen Dienst beschäftigt. Nach § 2 des Arbeitsvertrages vom bestimmte sich das Arbeitsverhältnis nach dem Berufsgenossenschafts-Angestelltentarifvertrag (nachfolgend: BG-AT) vom und den diesen ergänzenden oder ändernden Tarifverträgen. Im Dezember 1984 fasste der Vorstand der Beklagten den Beschluss, Zulagen für Ärzte des Arbeitsmedizinischen Dienstes zu zahlen, um im Wettbewerb mit anderen Einrichtungen ausreichend qualifiziertes medizinisches Personal gewinnen und halten zu können. Ärzte mit der Gebietsbezeichnung "Arbeitsmedizin", die in die VergGr. BG-AT Ia eingruppiert waren, sollten eine monatliche Qualifikationszulage von 500,00 DM (255,65 Euro) erhalten. In einem "1. Nachtrag zum Arbeitsvertrag" vom teilte die Beklagte der Klägerin mit, neben einer Grundvergütung und einem Ortszuschlag würde eine Qualifikationszulage für Arbeitsmedizin in Höhe von 500,00 DM mit Wirkung ab dem gezahlt. Entsprechend erhielt die Klägerin diese Zulage. Nachdem die Aufsichtsbehörde der Beklagten dies wegen der geänderten Wettbewerbssituation beanstandet hatte, beschloss die Beklagte im Januar 1998, die Zulage ab in vier Jahresschritten zu je 25 % abzubauen. Mit Schreiben vom teilte die Beklagte dies der Klägerin mit und verfuhr sodann entsprechend.

Im Jahre 1998 wandten sich zwei weitere bei der Beklagten beschäftigte Ärzte gegen die Kürzung, klagten jedoch erst etwa zwei Jahre später. In einem Urteil vom entsprach das Landesarbeitsgericht München einer dieser Klagen. Die Klägerin, die seit dem nach den Regelungen des BG-AT ordentlich nicht mehr kündbar ist, forderte die Beklagte erstmals mit Schreiben vom zur Zahlung der Zulage rückwirkend seit Mai 2002 auf. Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom und die Zahlung der Zulage ab, ua. weil sie den Anspruch für verwirkt hielt. Unter dem erhob die Klägerin die vorliegende Zahlungsklage für den Zeitraum von Juni bis Dezember 2002. Die Klage ist am beim Arbeitsgericht eingegangen und der Beklagten am zugestellt worden.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagte habe die Zulage als vertraglich vereinbarten Vergütungsbestandteil nicht einseitig widerrufen können. Die Beklagte habe im Schreiben vom angeboten, eine Qualifikationszulage zu leisten. Die Klägerin habe dies durch schlüssiges Verhalten annehmen können. Der Anspruch sei nicht auf Grund einer betrieblichen Übung entstanden und könne daher auch nicht durch eine gegenläufige betriebliche Übung erlöschen. Die Klägerin habe den Anspruch auch nicht verwirkt. Sie habe die gerichtlichen Verfahren ihrer Arbeitskollegen abwarten wollen und dürfen. Es könnten zudem nur Ansprüche aus der Vergangenheit verwirken. Wiederkehrende Ansprüche, die Verjährungs- und zudem Ausschlussfristen unterlägen, verwirkten dagegen regelmäßig nicht. Im Übrigen besitze die Klägerin dieselbe fachliche Qualifikation wie die Ärzte, denen die Leistungszulage fortgezahlt werde. Sie müsse daher gleichbehandelt werden.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.789,52 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 255,65 Euro seit 16. Juni, 16. Juli, 16. August, 16. September, 16. Oktober, 16. November und zu zahlen.

Zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags hat die Beklagte gemeint, die Ansprüche der Klägerin seien verwirkt. Seit Beginn der Kürzung seien annähernd fünf Jahre und seit der vollständigen Einstellung der Zahlung immerhin fast zwei Jahre vergangen, bevor die Klägerin erstmals den Anspruch geltend gemacht habe. Bei der Beklagten sei das berechtigte Vertrauen darauf entstanden, die Klägerin werde sich nicht mehr auf diesen Anspruch berufen. Die Verwirkung betreffe bei wiederkehrenden Leistungen nicht nur zurückliegende Zeiträume, sondern die Rechtsposition an sich. Dem stünden weder kurze Verjährungs- noch Ausschlussfristen entgegen. Da die Beklagte kulanterweise den Entzug der Zulage in vier Jahresschritten gestaffelt habe, habe sie erwarten können, dass die Klägerin gerade zu diesen Zeitpunkten deutlich mache, dass sie mit der Kürzung nicht einverstanden sei. Die Klägerin habe es sich auch nicht vorbehalten, ihre Ansprüche im Falle des Obsiegens einer der klagenden Kollegen geltend machen zu wollen. Der Beklagten sei es wegen des Schweigens der Klägerin nicht möglich gewesen, haushaltsrechtliche Dispositionen zu treffen. Die Beklagte werde ausschließlich von Arbeitgebern der Bauwirtschaft, die sich seit Jahren in einer nachhaltig wirtschaftlichen Schieflage befinden, finanziert. Die angespannte Haushaltssituation sei der Klägerin bekannt gewesen. Wegen des Schweigens der Klägerin habe die Beklagte keine Veranlassung gesehen, eine Änderungskündigung auszusprechen, bevor die Klägerin im Jahre 1999 ordentlich unkündbar geworden sei. Gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz habe sie nicht verstoßen. Die beiden Ärzte, denen die Zulage weiterhin gezahlt werde, hätten ihren Anspruch frühzeitig geltend gemacht.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Ansprüche der Klägerin sind nicht verwirkt.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Qualifikationszulage sei vertraglich vereinbart und nicht zu Lasten der Klägerin abgeändert worden. Mit dem Schreiben vom habe die Beklagte nicht angeboten, den Arbeitsvertrag zu ändern. Die Klägerin habe dem daher nicht durch ihr Schweigen auf dieses Schreiben zugestimmt. Die tatsächliche Kürzung sowie die seit dem Jahr 2001 vollständige Einstellung der Zahlung hätten keine Rechtsfolgen. Der Anspruch habe schon deshalb nicht durch eine gegenläufige betriebliche Übung entfallen können, weil er nicht durch eine betriebliche Übung entstanden sei. Die Klägerin habe den Anspruch auch nicht verwirkt. Allein der Zeitablauf reiche nicht. Bei wiederkehrenden Leistungen könne nur unter ganz besonderen Umständen angenommen werden, gerade erst fällig gewordene Vergütungsansprüche seien schon deshalb verwirkt, weil Ansprüche in der Vergangenheit für einen längeren Zeitraum nicht geltend gemacht worden seien. Solche Umstände fehlten. Die Klägerin habe nicht durch aktives Verhalten bei der Beklagten den Eindruck erweckt, sie werde ihren Anspruch nicht mehr geltend machen. Das Schweigen auch zu den Kürzungszeitpunkten sei weder illoyal noch treuwidrig. Die Beklagte hätte die von ihr erwünschte Klarheit durch eine Nachfrage bei der Klägerin oder durch ein Änderungsangebot herbeiführen können. Sollte die Beklagte trotz des Urteils des Landesarbeitsgerichts München davon ausgegangen sein, die Klägerin werde dauerhaft die Zulage nicht mehr verlangen, sei dieses Vertrauen nicht schutzwürdig. Die Beklagte könne sich auf ihre unterlassenen haushaltsrechtlichen Dispositionen nicht berufen. Es handele sich nicht um eine echte Vermögensdisposition, sondern lediglich um eine interne Einschätzung über zukünftige Zahlungspflichten. Als Vermögensdisposition komme auch eine unterlassene Änderungskündigung vor Eintritt des einzelvertraglich in Bezug genommenen tariflichen Sonderkündigungsschutzes nicht in Betracht. Die Beklagte habe selbst gegenüber dem Arzt, der bereits im Dezember 1998 seine Forderung geltend gemacht habe und im März 2000 ordentlich unkündbar geworden sei, nicht versucht, den Abbau der Zulage durch eine Änderungskündigung herbeizuführen.

II. Diesen Ausführungen folgt der Senat im Wesentlichen. Der Anspruch der Klägerin ist nicht verwirkt.

1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch zu.

Die Beklagte hat die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts nicht angegriffen, wonach sie der Klägerin wirksam im Schreiben vom die Zahlung der Zulage angeboten und die Klägerin dies angenommen habe. Daher könne der Anspruch auch nicht durch eine sog. gegenläufige betriebliche Übung beseitigt worden sein. Ebenso wenig hat die Beklagte die Würdigung des Landesarbeitsgerichts angegriffen, das Schreiben vom stelle kein Angebot einer verschlechternden Vertragsänderung dar, weshalb im Schweigen der Klägerin nicht die Zustimmung zu diesem Angebot gesehen werden könne ( -AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 47 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 144; - 10 AZR 612/96 - AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 50 = EzA BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 38). Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, dass die Beklagte meinte, zu einer einseitigen Reduzierung berechtigt zu sein und diese deshalb nur ankündigte, nicht jedoch eine Vertragsänderung anbot. Auch die Beklagte sprach nur von "Kulanzbemühungen", nicht jedoch von einem Angebot. Revisible Rechtsfehler hat die Beklagte insoweit nicht dargelegt. Sie sind auch nicht ersichtlich.

Die Beklagte rügt in der Revision lediglich, das Landesarbeitsgericht habe die Grundsätze der Verwirkung fehlerhaft auf den Streitfall angewandt.

2. Die Zahlungsklage ist nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerin ihr Klage- recht verwirkt hätte. Die Beklagte hat sich auf eine sog. Prozessverwirkung nicht berufen (vgl. hierzu -).

3. Die Ansprüche der Klägerin auf Zahlung der Zulage sind für den geltend gemachten Zeitraum nicht verfallen (§ 70 Satz 1 BG-AT). Danach verfallen Ansprüch aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Angestellten oder vom Arbeitgeber schriftlich geltend gemacht werden, soweit tarifvertraglich nichts anderes bestimmt ist. Das Schreiben der Klägerin vom wahrte damit die bis Juni 2002 zurückgehenden Ansprüche.

4. Die Klage ist nicht deshalb unbegründet, weil die Klägerin das Recht, sich auf den Anspruch auf die Qualifikationszulage zu berufen, verwirkt hat (§ 242 BGB). Diese Beurteilung des Landesarbeitsgerichts hält der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

Das Landesarbeitsgericht hat den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum nicht verlassen.

a) Die Verwirkung des Anspruchs der Klägerin ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil es sich um ein tarifliches Recht handelt (§ 4 Abs. 4 Satz 2 TVG). Auch die Klägerin behauptet dies nicht. Selbst wenn die Parteien beide tarifgebunden gewesen sein sollten, beruht der Anspruch auf die Qualifikationszulage nicht auf dem BG-AT. Vielmehr ist der Anspruch einzelvertraglich vereinbart worden. Da es sich auch nicht lediglich um einen übertariflichen Teil eines vom BG-AT geregelten Sockelbetrags der Vergütung handelt, sondern um einen rechtlich selbständigen, von eigenen Voraussetzungen abhängigen Entgeltbestandteil, greift das Verwirkungsverbot nicht.

b) Es kann unentschieden bleiben, ob lediglich zurückliegende Ansprüche oder auch das den wiederkehrenden Leistungen zu Grunde liegende Stammrecht verwirken können. Eine Verwirkung ist nicht eingetreten.

aa) Die Differenzierung der Beklagten zwischen Stammrecht und daraus erwachsenden wiederkehrenden Ansprüchen geht allerdings bereits im Ansatz fehl. Die Beklagte verwechselt vertragliche Anspruchsgrundlage und Stammrecht. Der Anspruch auf die monatlich zu zahlende Qualifikationszulage beruht auf einer vertraglichen Vereinbarung und entsteht jeden Monat neu. Die Verwirkung eines "Stammrechts" kommt deshalb von vornherein nicht in Betracht. Die vertragliche Grundlage ist auch nicht durch Änderungsvertrag abgeändert worden.

bb) Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung und soll dem Bedürfnis nach Rechtsklarheit dienen. Sie hat nicht den Zweck, Schuldner, denen gegenüber Gläubiger ihre Rechte längere Zeit nicht geltend gemacht haben, von ihrer Pflicht zur Leistung vorzeitig zu befreien. Deshalb kann allein der Zeitablauf die Verwirkung eines Rechts nicht rechtfertigen. Es müssen vielmehr zu dem Zeitmoment besondere Umstände sowohl im Verhalten des Berechtigten als auch des Verpflichteten hinzutreten (Umstandsmoment), die es rechtfertigen, die späte Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar anzusehen ( - BAGE 57, 329; - 5 AZR 497/99 - BAGE 97, 326; - 7 AZR 267/02 - BAGE 105, 317; - 7 AZR 365/05 -). Der Berechtigte muss unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erwecken konnten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, so dass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Durch die Verwirkung wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Die Verwirkung dient dem Vertrauensschutz ( - aaO mwN).

cc) Diese Grundsätze hat das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei angewandt.

Es kann daher dahinstehen, ob das Zeitmoment erfüllt ist und wann der Zeitraum, in dem sich die Untätigkeit eines Gläubigers bei wiederkehrenden Leistungen zu seinen Lasten auswirkt, zu laufen beginnt, denn es fehlt an dem erforderlichen Umstandsmoment.

(1) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass die Beklagte nicht darauf vertrauen konnte, die Klägerin werde gerichtlich nicht mehr gegen sie vorgehen, weil sie sich nicht ausdrücklich vorbehalten hat, den Ausgang der gerichtlichen Verfahren ihrer Kollegen abwarten zu wollen. Ein Gläubiger ist grundsätzlich nicht verpflichtet, den Schuldner darauf aufmerksam zu machen, dass er sich vorbehält, ihn zukünftig bei Eintritt bestimmter Bedingungen gerichtlich zu belangen. Gerade weil Kollegen der Klägerin gleich gelagerte Ansprüche gerichtlich geltend machten, musste die Beklagte damit rechnen, dass andere Arbeitnehmer dies zum Anlass nehmen würden, ihrerseits Ansprüche zu erheben (vgl. hierzu auch -; - 7 AZR 267/02 - BAGE 105, 317; aA wohl - EzAÜG § 10 AÜG Fiktion Nr. 68). Dass sie dies auch getan hat, geht daraus hervor, dass sie noch in der Revisionsinstanz mögliche "Trittbrettfahrer" befürchtet. Wenn die Beklagte wegen der Klageerhebung durch zwei Ärzte die Rechtslage mit der Klägerin hätte klären wollen, hätte sie von sich aus auf die Klägerin zugehen können (vgl. hierzu - aaO).

(2) Die Beklagte konnte auch nicht deshalb darauf vertrauen, dass die Klägerin ihren Anspruch auf die Zulage nicht (mehr) geltend machen werde, weil die Klägerin weder auf ihr Schreiben vom noch auf die in vier Jahren erfolgten jährlichen Kürzungen reagierte (vgl. hierzu - AP BGB § 242 Verwirkung Nr. 40). Auch dies hat das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt.

Untätigkeit eines Anspruchsberechtigten führt für sich genommen nicht zur Verwirkung ( - BAGE 105, 59). Auch das Ausbleiben von Mahnungen begründet noch keine Vertrauensposition des Schuldners ( - EzA BGB § 242 Verwirkung Nr. 2). Wenn die Beklagte es für illoyal hielt, dass die Klägerin trotz des Schreibens vom sowie der schrittweisen Kürzung ihre Ansprüche nicht geltend machte, so stellt sie Handlungspflichten auf, die nicht die Verwirkung von Ansprüchen begründen, sondern nur bei einer Vertrauenshaftung aus unterlassenem Widerspruch angenommen werden können (vgl. hierzu MünchKommBGB/Roth 4. Aufl. § 242 Rn. 284 f.). Letztere setzt jedoch voraus, dass nach der Verkehrsanschauung erwartet werden durfte, der Gläubiger werde ein Angebot ablehnen oder dass eine spezielle Rechtspflicht zum positiven Widerspruch bestand. Beides war nicht der Fall. Ein Arbeitnehmer ist grundsätzlich nicht verpflichtet, seinen Arbeitgeber auf dessen möglicherweise fehlerhafte rechtliche Auffassung aufmerksam zu machen, es sei denn, dass sich die Beklagte auf für die Klägerin ersichtlich fehlerhafte tatsächliche Annahmen gestützt hätte, von denen der Anspruch abhing und deren Aufklärung der Klägerin ein Leichtes gewesen wäre. Dies traf nicht zu.

Die Klägerin war auch nicht deshalb zum rechtzeitigen Widerspruch verpflichtet, weil die Beklagte "kulanterweise" die Zulage nicht mit einem Mal gestrichen hatte. Die Klägerin verhielt sich damit nicht illoyal. Das Schweigen der Klägerin hat die Beklagte nicht dazu bewogen, die vollständige Kürzung hinauszuschieben (vgl. hierzu - AP BGB § 242 Verwirkung Nr. 39 = EzA BetrVG 1972 § 40 Nr. 38). Vielmehr kündigte die Beklagte im Schreiben vom neben dem Entzug der Zulage zugleich deren schrittweise Kürzung in vier aufeinanderfolgenden Jahren an, ohne dies unter die Bedingung zu stellen, dass die Klägerin mit der Kürzung einverstanden sei. Dem Entgegenkommen der Beklagten ist nicht deshalb die Grundlage entzogen, weil sich die Klägerin noch zur Geltendmachung ihrer Ansprüche entschloss.

(3) Fehlt es an besonderen Umständen im Verhalten der Klägerin, kommt es nicht darauf an, ob sich die Beklagte ihrerseits so verhielt, dass es ihr unzumutbar geworden wäre, die Forderungen der Klägerin zu erfüllen ("Zumutbarkeitsmoment", vgl. zu diesem Begriff - AP BetrAVG § 16 Nr. 60 = EzA BetrAVG § 16 Nr. 48, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Die Beklagte hat auch keine solchen Umstände vorgetragen.

Soweit sie behauptet, sie habe die Forderungen der Klägerin nicht als Haushaltsrückstellung berücksichtigen können, rechtfertigt dies nicht die Annahme, es sei ihr aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar, die Ansprüche zu erfüllen (vgl. auch -). Die Beklagte spricht insofern von einer angespannten Haushaltssituation und der nachhaltigen wirtschaftlichen Schieflage, in der sich ihre Mitglieder befänden. Zwar mögen auch haushaltsrechtliche Planungen grundsätzlich geeignet sein, die Erfüllung von Forderungen unzumutbar zu machen. Angesichts der auf sechs Monate beschränkten Geltendmachung der Zulage für das Jahr 2002 hätte es dann jedoch substantiierten Vortrags bedurft, welche wirtschaftlichen Konsequenzen die Beklagte oder ihre Mitglieder wegen der Forderungen der Klägerin zu bewältigen hatten. Auch die Erfüllung zukünftiger Forderungen ist der Beklagten nicht unzumutbar. Diese fließen ebenso wie mögliche Forderungen anderer Arbeitnehmer in den jährlich aufzustellenden Haushaltsplan ein. Die Beklagte konnte jedenfalls seit der Geltendmachung der Forderung durch die Klägerin Ende November 2002 entsprechende Rückstellungen in den Haushaltsplänen machen.

Soweit die Beklagte auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verwirkung von Unterhaltsansprüchen hinweist, übersieht sie, dass diese Rechtsprechung einen Erfahrungssatz annimmt, wonach ein Unterhaltsschuldner seine Lebensführung an die ihm zur Verfügung stehenden Einkünfte anpasst, bei unerwarteten Unterhaltsnachforderungen nicht auf Ersparnisse zurückgreifen kann und dadurch regelmäßig in Bedrängnis gerät ( - BGHZ 152, 217; - IVb ZR 7/87 - BGHZ 103, 62). Dieser speziell für den familienrechtlichen Unterhalt behauptete Erfahrungssatz kann schon deshalb nicht auf eine Berufsgenossenschaft wie die Beklagte übertragen werden, weil es an vergleichbaren wirtschaftlichen Verhältnissen fehlt. Im Fall besserer wirtschaftlicher Verhältnisse des Schuldners spielt dieser Erfahrungssatz für den Bundesgerichtshof auch keine Rolle mehr ( - NJW-RR 2004, 649).

(4) Der Beklagten ist die Erfüllung der vertraglichen Ansprüche auch nicht deshalb unzumutbar, weil sie in den 16 Monaten nach Bekanntgabe ihrer Kürzungsentscheidung keine Änderungskündigung aussprach, bevor die Klägerin ordentlich unkündbar wurde. Es ist bereits zweifelhaft, dass die Beklagte deshalb überhaupt Schutz verdiente. War der einseitige Entzug der Zulage nur durch eine Änderungskündigung wirksam durchzusetzen, so verhielt sich die Beklagte selbst nicht rechtstreu, wenn sie die Zulage faktisch einstellte und auf das Stillschweigen der Klägerin hoffte. Jedenfalls ist die bloße Möglichkeit, eine Kündigung auszusprechen, nicht gleichzusetzen mit deren Wirksamkeit. Zu den konkreten - wohl betriebsbedingten - Gründen, die die Änderungskündigung hätten tragen können, trägt die Beklagte nichts vor. Der pauschale Verweis auf eine haushaltsrechtlich angespannte Lage reicht nicht aus. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Beklagte überhaupt eine Änderungskündigung ausgesprochen hätte. Sie selbst spricht noch in der Revision davon, aus Gründen des Betriebsfriedens darauf verzichtet zu haben. Das Landesarbeitsgericht weist zudem zutreffend darauf hin, dass auch ein anderer Arzt, der später als die Klägerin ordentlich unkündbar wurde, seine Ansprüche jedoch bereits früher geltend gemacht hatte, keine Änderungskündigung erhielt. Der Vortrag der Beklagten beschränkt sich daher auf eine fiktive Möglichkeit, an deren Durchsetzung sie selbst nicht dachte.

5. Aus den oben dargelegten Gründen ist die Geltendmachung der Zulage auch nicht rechtsmissbräuchlich. Die Klägerin setzt sich hierdurch zu ihrem früheren Verhalten nicht in Widerspruch (vgl. hierzu -; - 5 AZR 855/95 - BAGE 85, 11). Die Klägerin hat zwar die schrittweise Kürzung der Qualifikationszulage schweigend hingenommen. Rechte werden aber nicht allein dadurch undurchsetzbar, dass Teilleistungen entgegengenommen werden (MünchKommBGB/Roth § 242 Rn. 294). Die Klägerin war deshalb nicht verpflichtet, die Beklagte darauf aufmerksam zu machen, sie erkenne die gekürzten Zulagen nur als teilweise Erfüllung an. Im Übrigen dienten die gekürzten Zahlungen nicht der Erfüllung einer auch aus Sicht der Beklagten fortbestehenden Vergütungspflicht. Vielmehr ging die Beklagte in ihrem Schreiben vom von einem reinen Zugeständnis aus, wenn sie die Zahlung - trotz der aus ihrer Sicht bestehenden rechtlichen Möglichkeit - nicht sofort einstellte.

6. Ist der Anspruch der Klägerin auf die Zulage nicht verwirkt, kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin im Vergleich zu den Ärzten, denen die Zulage (mittlerweile) wieder gezahlt wird, ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wird.

III. Die Beklagte hat die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
NJW 2007 S. 2063 Nr. 28
NAAAC-45177

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