BFH Beschluss v. - XI B 149/05

Rechtsschutzgewährende Auslegung eines Einspruchs

Gesetze: AO § 355, AO § 357

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) erließ am gegenüber dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), einem Rechtsanwalt, jeweils nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Bescheide „für 1991 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag” und „über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum ”. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde jeweils aufgehoben. Geltend gemachte Promotionskosten erkannte das FA wiederum nicht an. Die Einkommensteuer wurde —wie schon in den vorangegangenen Einkommensteuerbescheiden— auf 0 DM festgesetzt. Aufgrund des erhöhten Verlustabzugs im Einkommensteuerbescheid 1991 verminderte sich der bisher festgestellte verbleibende Verlustabzug zum von 18 867 DM auf 404 DM.

Mit Schreiben vom legte der Kläger Einspruch ein mit folgendem Wortlaut:

„Gegen den Bescheid für 1991 über Einkommensteuer u.a. lege ich hiermit Einspruch ein. Eine Begründung folgt.”

Nachdem das FA den Kläger darauf hingewiesen hatte, dass bei einer Einkommensteuerfestsetzung von 0 DM kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe, teilte der Kläger dem FA mit:

„Bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom nehme ich den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für 1991 zurück.”

Im Laufe eines Klageverfahrens betreffend Einkommensteuer 1992 wies der Berichterstatter den Kläger darauf hin, dass die von ihm geltend gemachten Promotionskosten u.a. das Kalenderjahr 1991 beträfen. Daraufhin machte dieser die Aufwendungen in dem nach seiner Auffassung nach wie vor offenen Einspruchsverfahren betreffend die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum geltend. Das FA ging davon aus, dass der Kläger seinerzeit nur gegen den Einkommensteuerbescheid für 1991 Einspruch eingelegt habe und dieser mittlerweile durch Rücknahme des Einspruchs bestandskräftig geworden sei.

Mit der Untätigkeitsklage machte der Kläger geltend, dass er mit seinem Schreiben vom nicht nur gegen den Einkommensteuerbescheid 1991, sondern auch gegen den Bescheid betreffend die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum Einspruch eingelegt habe. Dies ergebe sich aus der ausdrücklichen Bezeichnung des Einspruchs mit „Einkommensteuerbescheid u.a.”. Auf den Hinweis des FA zur fehlenden Beschwer habe er nur den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid zurückgenommen.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Mit seinem Schreiben vom habe der Kläger lediglich gegen den Einkommensteuerbescheid für 1991 Einspruch eingelegt. Der Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs sei mangels Einspruch bestandskräftig geworden. Zwar sei das Einspruchsschreiben entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auszulegen. Den dort enthaltenen Zusatz „u.a.” habe das FA dahin verstehen können, dass der Kläger neben der Festsetzung der Einkommensteuer die Folgesteuern (Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer) habe anfechten wollen. Der Kläger sei als Rechtsanwalt und Notar in steuerlichen Verfahren versiert. Auch sei der Zusatz „u.a.” sprachlich derart offen und unklar, dass sich das FG bei seiner Entscheidung sehr stark davon habe leiten lassen, dass eine zu weite Auslegung dieses Begriffes zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit führen würde. Aus dem zeitgleichen Ergehen des Festsetzungs- und des Feststellungsbescheids ergebe sich nichts anderes. Aus der Sicht des FA habe auch kein Anlass zur Klärung bestanden, da es davon ausgegangen sei, dass der Kläger zunächst nur beabsichtigt habe, den Einkommensteuerbescheid im Hinblick auf eine Betriebsprüfung offenzuhalten.

Der Kläger stützt seine Nichtzulassungsbeschwerde auf grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und Verfahrensfehler. Zu klären sei, ob mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen auf 0 DM lautenden Einkommensteuerbescheid nicht typischerweise zugleich auch der Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs angefochten werde. Soweit das FG bei Auslegung des Zusatzes „u.a.” den Rechtssatz aufgestellt habe, eine der Interessenlage des Rechtsbehelfsführers entsprechende Auslegung komme nicht in Betracht, und das FA habe trotz Zweifeln am Umfang des Rechtsbehelfs nicht zurückfragen müssen, weiche es von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab. Zugleich habe das FG Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt. Hätte es den Einspruch zutreffenderweise so ausgelegt, dass die abgegebene Erklärung entsprechend der Rechtsprechung des BFH dem Willen und der Zielsetzung des Klägers gerecht geworden wäre, hätte es die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.

Während des Beschwerdeverfahrens ist aufgrund einer Änderung des zum festgestellten verbleibenden Verlustabzugs ein Änderungsbescheid ergangen (§ 68 Satz 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—).

II. Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

1. Nach § 116 Abs. 6 FGO kann der BFH das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Ein Verfahrensfehler in diesem Sinne liegt auch vor, wenn das FG Sachentscheidungsvoraussetzungen fehlerhaft beurteilt (ständige Rechtsprechung; vgl. z.B. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 78, m.w.N.). Da der Kläger sich mit seinem gesamten Vorbringen im Kern darauf beruft, das FG habe sein Schreiben vom nicht nur als Einlegung eines Einspruchs gegen den auf 0 DM lautenden Einkommensteuerbescheid verstehen dürfen, macht er einen Verfahrensfehler, nämlich die Verletzung des § 46 i.V.m. § 44 FGO geltend.

2. Diese Rüge ist begründet. Prozessuale und außerprozessuale Rechtsbehelfe sind unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Gebots zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes auszulegen, wenn es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung fehlt. Dies gilt grundsätzlich auch für Erklärungen rechtskundiger Personen (vgl. z.B. , BFH/NV 2001, 589). In diesem Sinne hat der erkennende Senat mit Beschluss vom XI B 45/03 (BFH/NV 2005, 2029) entschieden, dass ein Einspruch, der sich gegen einen auf 0 DM lautenden Einkommensteuerbescheid richtet, entgegen seinem Wortlaut als Einspruch gegen den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs gemäß § 10d Abs. 3 (heute Abs. 4) des Einkommensteuergesetzes (EStG) verstanden werden kann (vgl. auch , BFH/NV 2006, 68). Dies folgt aus der Unübersichtlichkeit und Komplexität der verfahrensrechtlichen Lage hinsichtlich des Verhältnisses zwischen dem Einkommensteuerbescheid einerseits und dem Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs andererseits (vgl. auch z.B. Sachverhalt zum , BFHE 210, 4, BStBl II 2005, 644).

Ist danach der Einspruch gegen einen auf 0 DM lautenden Einkommensteuerbescheid schon im Allgemeinen als ein solcher gegen den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum Ende desselben Veranlagungszeitraumes zu verstehen, muss erst recht der Einspruch des Klägers gegen den Einkommensteuerbescheid „u.a.” als Einspruch gegen die Festsetzung der Steuer und die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs verstanden werden. Dies gilt umso mehr, als die Einkommensteuer im Streitfall gegenüber den vorangegangenen Einkommensteuerbescheiden unverändert mit 0 DM festgesetzt, der bislang festgestellte verbleibende Verlustabzug aber im Bescheid vom von ursprünglich 18 867 DM auf 404 DM herabgesetzt wurde.

Dem stehen die Überlegungen des FG im Übrigen nicht entgegen. Die Auffassung, der Zusatz „u.a.” führe bei großzügiger Auslegung zu einer unsachgerechten Einschränkung des Eintritts der Bestandskraft, steht dem Gebot zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes entgegen. Soweit das FA vorgetragen hat, mit dem Zusatz „u.a.” sei die Festsetzung des Solidaritätszuschlags und der Kirchensteuer zu verstehen, ist dies wegen der Kirchensteuer schon deswegen nicht überzeugend, weil gegenüber dem Kläger keine Kirchensteuer festgesetzt wurde. Auch hat das FA letztlich nicht über einen Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags entschieden, obgleich seiner Meinung nach „nur” der Einspruch gegen die Einkommensteuerfestsetzung zurückgenommen wurde. Entgegen der Auffassung des FG sprechen zudem erhebliche Anhaltspunkte auch deswegen für eine Einlegung des Einspruchs gegen den Feststellungsbescheid, weil dieser am selben Tag wie der Einkommensteuerbescheid ergangen und daher typischerweise zeitgleich zugegangen ist. Da die Einkommensteuer mit 0 DM festgesetzt war, ist auch die Annahme fernliegend, der Kläger habe im Hinblick auf eine Außenprüfung lediglich den Einkommensteuerbescheid offenhalten wollen.

Da der Umfang einer Einspruchseinlegung anhand des Einspruchsschreibens und ggf. der damals gegebenen Gesamtumstände zu beurteilen ist, kommt es auf das spätere Verhalten des Klägers im Klageverfahren betreffend die Einkommensteuer 1992 nicht an.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 2035 Nr. 11
MAAAC-16473