BGH Urteil v. - 3 StR 58/02

Leitsatz

[1] Die Strafkammer, vor der die Jugendkammer gemäß § 209 Abs. 1 i. V. mit § 209 a Nr. 2 Buchst. a StPO ein bei ihr angeklagtes Verfahren eröffnet hat, ist, wenn sie in der Hauptverhandlung zu der Erkenntnis gelangt, daß der Angeklagte entgegen der Einschätzung der Jugendkammer bei Begehung der Tat (nicht ausschließbar) noch Heranwachsender war, ungeachtet des Eröffnungsbeschlusses gehalten, die Sache gemäß § 270 Abs. 1 StPO an die zuständige Jugendkammer zu verweisen.

Gesetze: JGG § 33 Abs. 1; JGG § 107; StPO § 209 Abs. 1; StPO § 209 a Nr. 2 Buchst. a; StPO § 270 Abs. 1; StPO § 338 Nr. 4

Instanzenzug: LG Kiel

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Hiergegen wenden sich die Nebenkläger, die Brüder des Tatopfers, mit ihren Revisionen. Sie erstreben die Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes. Die Rechtsmittel führen mit der auf § 338 Nr. 4 StPO gestützten Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils.

1. Der Rüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Die Staatsanwaltschaft hat der Angeklagten mit der Anklage zur Last gelegt, am ihren Lebensgefährten E. vorsätzlich getötet zu haben. Da die Ermittlungen keine Gewißheit darüber erbracht hatten, ob die Angeklagte bereits 1978 geboren worden (und also zur Tatzeit schon Erwachsene) war oder erst 1980/81 (und also zur Tatzeit noch Heranwachsende), ist die Anklage bei der Jugendkammer erhoben worden. Diese hat vor ihrer Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens Sachverständigengutachten zur Bestimmung des Lebensalters eingeholt und weitere Ermittlungen hierzu durchgeführt. Aufgrund der so gewonnenen Erkenntnisse ist die Jugendkammer davon ausgegangen, daß die Angeklagte entsprechend der Eintragung in ihrem Paß 1978 geboren worden, zum Zeitpunkt der ihr vorgeworfenen Tat folglich mindestens 21 Jahre alt war. Dementsprechend hat sie das Hauptverfahren gemäß §§ 209 Abs. 1, 209 a Nr. 2 StPO vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts eröffnet. In der Hauptverhandlung ist die Schwurgerichtskammer nach Würdigung der von ihr erhobenen Beweise zu dem Ergebnis gelangt, daß das Geburtsjahr der Angeklagten und ihr Alter zur Tatzeit nicht mit der erforderlichen Sicherheit bestimmt werden können. Das hat sie zum Anlaß genommen, die Angeklagte als Heranwachsende zu behandeln und sie zu Jugendstrafe zu verurteilen.

2. Die Beschwerdeführer beanstanden mit Erfolg, daß die Schwurgerichtskammer ihre Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat (§ 338 Nr. 4 StPO).

a) Der Zulässigkeit der Rüge steht nicht entgegen, daß die Nebenkläger im Verfahren vor der Schwurgerichtskammer keinen Einwand gegen die Zuständigkeit des Erwachsenengerichts erhoben haben. Eine dem § 6 a StPO entsprechende Vorschrift sieht das Gesetz für das Verhältnis von Erwachsenengericht und Jugendgericht nicht vor (BGHSt 30, 260; BGH StV 1981, 77; Hanack in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 338 Rdn. 77 m. w. N.; Rieß in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 209 a Rdn. 46).

b) Die Rüge ist auch begründet.

aa) Rechtsfehlerfrei hat die Schwurgerichtskammer die Angeklagte als Heranwachsende angesehen. Sie hat nach umfangreicher Beweiserhebung und sachlich-rechtlich nicht zu beanstandender Beweiswürdigung letzte Zweifel daran, daß die Angeklagte zur Tatzeit nicht mindestens 21, sondern noch 20 Jahre alt und deshalb Heranwachsende war, nicht zu überwinden vermocht. Ist aber der Heranwachsendenstatus eines Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat nicht sicher auszuschließen, so ist nach dem Grundsatz in dubio pro reo davon auszugehen, daß er bei Begehung der Tat noch Heranwachsender war (BGHSt 5, 366, 370; Dallinger MDR 1955, 181 f.; Brunner/Dölling, JGG 10. Aufl. § 1 Rdn. 11; Eisenberg, JGG 6. Aufl. § 33 Rdn. 6 a).

bb) Daraus folgt aber, daß die Schwurgerichtskammer bei Erlaß des Urteils für die Aburteilung der Angeklagten nicht zuständig war. Zuständig war vielmehr gemäß § 107 i. V. m. § 33 Abs. 1 JGG die Jugendkammer. § 74 e GVG gilt im Verhältnis der Schwurgerichtskammer zur Jugendkammer nicht. Den Vorrang der Jugendkammer mußte die erkennende Strafkammer von Amts wegen beachten (vgl. Rudolphi in SK-StPO § 6 a Rdn. 2; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 6 a Rdn. 2 m. w. N.). Sie hätte deshalb die Sache gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 1. Halbs. StPO an die Jugendkammer als gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. i. V. m. § 209 a Nr. 2 StPO höherrangiges Gericht verweisen müssen (Eisenberg, JGG 6. Aufl. § 33 Rdn. 34; Engelhardt in KK-StPO 4. Aufl. § 270 Rdn. 14; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 270 Rdn. 11; Rieß in Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 209 a Rdn. 20; Schlüchter in SK-StPO § 270 Rdn. 12).

cc) Dem steht nicht entgegen, daß die Jugendkammer zuvor im Eröffnungsverfahren ihre Zuständigkeit aufgrund der von ihr erhobenen Beweise verneint und das Verfahren gemäß § 209 Abs. 1, § 209 a Nr. 2 Buchst. a StPO vor der Schwurgerichtskammer eröffnet hatte.

aaa) Ob und wie weit der Beschluß, durch den ein Gericht das Hauptverfahren gemäß § 209 Abs. 1 StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung eröffnet, dieses in der Entscheidung über seine Zuständigkeit bindet, wird unterschiedlich beurteilt. Das gilt insbesondere für die Frage, ob das Gericht, vor dem das Gericht höherer Ordnung das Hauptverfahren eröffnet hat, als Folge dieses Eröffnungsbeschlusses gehindert ist, die Akten gemäß § 225 a Abs. 1 Satz 1 StPO (ggf. i. V. m. § 225 a Abs. 1 Satz 2 StPO) vorzulegen, wenn es etwa bereits bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung zu der Erkenntnis gelangt, daß entgegen der Einschätzung des Gerichts höherer Ordnung doch dessen Zuständigkeit begründet ist (so Loos in AK-StPO § 209 Rdn. 5; Pfeiffer, StPO 4. Aufl. § 209 Rdn. 3; aA - Vorlegung nach § 225 a StPO zulässig nur bei veränderter Sachlage - OLG Karlsruhe NStZ 1990, 100; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 209 Rdn. 7; Seidl in KMR § 209 Rdn.15; wiederum aA - Vorlegung nach § 225 a StPO ohne Einschränkungen zulässig - wohl Paeffgen in SK-StPO § 219 Rdn. 12 und Rieß aaO § 209 Rdn. 30). Insofern mögen schon im Hinblick darauf, daß die Beurteilungsgrundlage im Zwischenverfahren wie auch in dem die Hauptverhandlung vorbereitenden Teil des Hauptverfahrens jeweils eine vorläufige ist und in der Eröffnung vor dem Gericht niedrigerer Ordnung gemäß § 209 StPO eine Vorwegnahme der ablehnenden Entscheidung gemäß § 225 a Abs. 1 Satz 2 StPO gesehen werden könnte, gute Gründe für die Annahme einer Bindung des Gerichts, vor dem das Verfahren eröffnet wurde, sprechen. Die Frage braucht hier aber nicht entschieden zu werden.

bbb) Die bindende Wirkung des Eröffnungsbeschlusses gemäß § 209 Abs. 1 StPO reicht nämlich, soweit sie die Zuständigkeit des Gerichtes niedrigerer Ordnung betrifft, nicht - jedenfalls nicht uneingeschränkt - in die Hauptverhandlung hinein. Daß nach Beginn der Hauptverhandlung eine Rückverweisung an das Gericht höherer Ordnung gemäß § 270 Abs. 1 StPO grundsätzlich möglich ist, entspricht allgemeiner Auffassung (Julius in HK-StPO § 209 Rdn. 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 209 Rdn. 7 [vgl. aber auch Rdn. 2]; Loos aaO § 209 Rdn. 5; Pfeiffer aaO § 209 Rdn. 3; Rieß aaO § 209 Rdn. 30; Seidl in KMR § 209 Rdn. 15). Der Senat schließt sich ihr an: Die Hauptverhandlung bietet - wie keiner näheren Begründung bedarf - als zentraler, durch die Prinzipien der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit geprägter Abschnitt des Strafverfahrens, dem die umfassende Beweisaufnahme vorbehalten ist, bessere Erkenntnismöglichkeiten als das Eröffnungsverfahren. Das spricht gegen die Auffassung, dem Eröffnungsbeschluß komme hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichts niedrigerer Ordnung, vor dem das Verfahren eröffnet worden ist, auch für die Hauptverhandlung eine bindenden Wirkung zu.

ccc) Fraglich kann nur sein, ob - wie von einem Teil der Literatur vertreten wird - eine Rückverweisung gemäß § 270 Abs. 1 StPO an das Gericht, das die Sache vor dem niedrigeren Gericht eröffnet hatte, nur bei einer Änderung der Sachlage zulässig ist (Julius aaO § 209 Rdn. 4; Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO § 209 Rdn. 7) und ob - wie der Generalbundesanwalt gestützt auf diese Auffassung meint - die Schwurgerichtskammer hier wegen unveränderter Sach- und Beweismittellage an einer Rückverweisung an die Jugendkammer gehindert war.

Die Annahme einer solchen, wenngleich nur eingeschränkten, Bindungswirkung des Eröffnungsbeschlusses auch für das Verfahren nach Beginn der Hauptverhandlung vermag nicht zu überzeugen.

Zum einen erscheinen Zweifel angebracht, ob die "unveränderte Sachlage" überhaupt ein taugliches Kriterium sein kann: Schon eine umfassende Prüfung der relevanten Beweismittel in der Hauptverhandlung kann die Sach- oder Beurteilungsgrundlage grundlegend verändern, selbst wenn die Beweismittel nach Art und Anzahl gegenüber denjenigen, die der Entscheidung über die Eröffnung zugrunde lagen, gleichgeblieben sind. So lag es ersichtlich auch in der hier zu beurteilenden Sache. Die Sachverständigen, die im Vorverfahren schriftliche Gutachten zur Altersbestimmung der Angeklagten erstattet hatten, haben in der Hauptverhandlung ihre Gutachten mündlich erläutern und auf Nachfragen ergänzen können und dabei ersichtlich Zweifel daran geweckt oder bestätigt, ob ein Alter der Angeklagten von noch 20 Jahren zum Zeitpunkt der Tat mit Sicherheit ausgeschlossen werden konnte.

Zum anderen spricht, gerade soweit (wie hier) die Zuständigkeit von Erwachsenengericht und Jugendgericht in Frage steht, der Blick auf die materiell-rechtlichen Konsequenzen gegen jedwede - die Möglichkeit einer Rückverweisung ausschließende - Bindung der allgemeinen Strafkammer an den Eröffnungsbeschluß der Jugendkammer. Die allgemeine Strafkammer ist zur Anwendung von Jugendrecht grundsätzlich nicht berufen. Über die Verfehlungen Jugendlicher entscheiden nach § 33 Abs. 1 JGG die Jugendgerichte. Ausnahmen sieht das Jugendgerichtsgesetz nur für wenige Konstellationen vor (vgl. § 102 Satz 1 und § 103 Abs. 2 StPO). Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß wegen der besonderen Aufgaben des Strafrechts bei der Ahndung von Taten jugendlicher oder heranwachsender Straftäter nur Gerichte zur Entscheidung berufen sein sollen, die nach Besetzung und Ausstattung den Anliegen eines jugendgemäßen Verfahrensablaufs und einer maßgeblich am Erziehungsgedanken orientierten Entscheidungsfindung gerecht werden können. Die vom Jugendgerichtsgesetz vorausgesetzte spezifisch jugendstrafrechtliche Kompetenz der Richterbank wäre bei der Aburteilung der Tat eines Jugendlichen oder Heranwachsenden durch eine allgemeine Strafkammer aber grundsätzlich nicht gewährleistet. Deswegen darf diese Strafkammer, wenn sie in der Hauptverhandlung feststellt, daß sie es mit einem nach Jugendrecht zu bestrafenden Täter zu tun hat, auch dann nicht zur Entscheidung in der Sache gezwungen sein, wenn die eigentlich zuständige Jugendkammer das Verfahren vor ihr eröffnet hat; ob der Erkenntnis, daß Jugendrecht anzuwenden ist, neue Tatsachen oder Beweismittel zugrunde liegen oder nicht, kann dabei nicht von Belang sein.

Aus Erwägungen der Prozeßwirtschaftlichkeit wie auch aus dem Beschleunigungsgrundsatz ergeben sich keine durchgreifenden Bedenken gegen eine (Rück-) Verweisung gemäß § 270 Abs. 1 StPO. Hat das Erwachsenengericht, bei dem das Jugendgericht ein Verfahren gemäß §§ 209 Abs. 1, 209 a Nr. 2 StPO eröffnet hat, die Sache gemäß § 270 Abs. 1 StPO an das Jugendgericht zurückverwiesen, nachdem es in der Hauptverhandlung aufgrund eigener Beurteilung zu der Auffassung gelangt ist, das Jugendgericht sei trotz dessen abweichender Einschätzung im Eröffnungsbeschluß selbst zuständig, so schließt § 47 a Satz 1 JGG eine erneute Zuständigkeitsübertragung des Verfahrens durch das Jugendgericht auf ein Erwachsenengericht aus. Nach dieser Vorschrift, die der Regelung des § 269 StPO entspricht (Rieß aaO § 209 a Rdn. 20), dürfen sich Jugendgerichte nicht mehr für unzuständig erklären, wenn sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens die Zuständigkeit eines Erwachsenengerichts ergibt. Danach kann es nach Eröffnung des Verfahrens vor einem Erwachsenengericht allenfalls zu einer Rückverweisung des Verfahrens kommen, was aber im Interesse sachgerechter Entscheidungen hinzunehmen ist. Verzögerungen und die Mißlichkeit eines unwirtschaftlichen Verfahrensaufwands, die sich daraus ergeben könnten, daß sich nach (Rück-) Verweisung der Sache an das Jugendgericht eine zuvor beim Erwachsenengericht schon durchgeführte (unter Umständen umfangreiche) Beweisaufnahme zur Tat als nutzlos erweist und vollständig wiederholt werden muß, lassen sich dadurch vermeiden, daß sich das Erwachsenengericht bereits zu Beginn der Beweisaufnahme - bevor es sich den Feststellungen zu Tat und Täterschaft zuwendet - Gewißheit über das Alter des Täters zur Tatzeit verschafft. An dieser Gestaltung des Verfahrensablaufs, die sich empfehlen wird, wenn über das Lebensalter des Angeklagten in einer für die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht erheblichen Weise Zweifel bestehen, ist das Erwachsenengericht nicht gehindert.

3. Da die unzuständige Strafkammer entschieden hat, führt die Rüge des § 338 Nr. 4 StPO zur Aufhebung des Urteils. Der Senat hat gemäß § 355 StPO die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
MAAAC-09384

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