BFH Urteil v. - VII R 18/03 BStBl 2005 II S. 323

Aufhebung eines Haftungsbescheids unter gleichzeitigem Erlass eines neuen Haftungsbescheids

Leitsatz

Hebt die Finanzbehörde während eines finanzgerichtlichen Verfahrens den angefochtenen Haftungsbescheid unter gleichzeitigem Erlass eines neuen Haftungsbescheides auf, so ist der neue Haftungsbescheid noch innerhalb der nach § 171 Abs. 3a Satz 1 AO 1977 gehemmten Festsetzungsfrist ergangen.

Gesetze: AO 1977 § 171 Abs. 3a Satz 1

Instanzenzug: (U), (EFG 2003, 666) (Verfahrensverlauf), ,

Gründe

I.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde als Geschäftsführer einer GmbH vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—) wegen rückständiger Umsatzsteuer für 1992 nebst im Jahre 1995 festgesetzter Zinsen und inzwischen angefallener Säumniszuschläge gemäß § 191 i.V.m. §§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO 1977) mit Haftungsbescheid vom (Haftungsbescheid I) als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Nach erfolglosem Einspruch erhob der Kläger Klage und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheides. Das Finanzgericht (FG) gab dem Antrag mit der Begründung statt, das FA habe sein Auswahlermessen nicht hinreichend begründet. Mit Schreiben vom übersandte das FA dem Kläger einen neuen Haftungsbescheid (Haftungsbescheid II) und führte hierzu aus, dass der Haftungsbescheid I in vollem Umfang nach §§ 132, 130 Abs. 1 AO 1977 zurückgenommen und durch einen in seiner Begründung ergänzten Haftungsbescheid ersetzt werde. Daraufhin stellte das die Erledigung des Klageverfahrens gegen den Haftungsbescheid I fest.

Auch den Haftungsbescheid II griff der Kläger mit Einspruch und Klage an. Seinem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheides gab das FG statt. Die vom FA beim Bundesfinanzhof (BFH) eingelegte Beschwerde hatte keinen Erfolg (vgl. Senatsbeschluss vom VII B 244/01, BFH/NV 2002, 1125). Den Haftungsbescheid II hob das FG durch das in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 666 veröffentlichte Urteil auf. Es führte aus, dass der Kläger den Haftungstatbestand im Jahre 1995 verwirklicht habe. Infolgedessen habe der Lauf der Festsetzungsfrist nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 mit Ablauf dieses Jahres begonnen. Zwar sei der Ablauf der Frist durch die Anfechtung des Haftungsbescheides I zunächst gehemmt worden, doch habe das FA durch die vollständige Aufhebung des Bescheides die Ablaufhemmung rückwirkend beseitigt. Im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides II sei die vierjährige Festsetzungsfrist bereits abgelaufen gewesen. Diese Rechtsfolge sei unabhängig davon eingetreten, ob der Kläger mit dem Erlass eines neuen Haftungsbescheides rechnen musste. Durch das Institut der Festsetzungsverjährung erlösche ein Anspruch allein durch Zeitablauf, ohne dass es im Einzelfall darauf ankomme, ob der Begünstigte ein schutzwürdiges Vertrauen darin habe, dass die Finanzbehörde den Anspruch nicht mehr geltend mache.

Aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts von § 171 Abs. 3a Satz 3 AO 1977 komme auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf den Streitfall nicht in Betracht. Eine Fristverlängerung trete nur für den Fall der gerichtlichen Kassation des Bescheides ein, nicht aber auch für den Fall, dass das FA den Bescheid aufgrund eigener Erkenntnis selbst aufheben würde. Wolle das FA nachteilige Folgen vermeiden, so könne es das Klageverfahren bis zu einer gerichtlichen Entscheidung fortsetzen oder wenn dies möglich wäre, den Bescheid gemäß § 124 Abs. 2, § 130 Abs. 1 AO 1977 ändern, ohne diesen in vollem Umfang aufzuheben.

Mit der Revision rügt das FA eine rechtsfehlerhafte Auslegung von § 171 Abs. 3a AO 1977. Hätte das FA im Klageverfahren an seiner Rechtsauffassung festgehalten, hätte dies mit Sicherheit eine gerichtliche Kassation des Haftungsbescheides I zur Folge gehabt. Aus diesem Grunde sei der Erlass eines neuen Bescheides erforderlich gewesen. Der Sinn und Zweck von § 171 Abs. 3a Satz 3 AO 1977 geböten es, diese Vorschrift auch dann anzuwenden, wenn die Finanzbehörde in hinreichend sicherer Erkenntnis über die Erfolgsaussichten der Klage der gerichtlichen Kassation durch eigene Aufhebung des Bescheides und Erlass eines neuen Bescheides vorgreife, ohne dabei Vertrauenstatbestände zugunsten des Klägers zu schaffen. Eine wortgetreue Auslegung von § 171 Abs. 3a Satz 3 AO 1977 würde zu dem mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht vereinbaren Ergebnis führen, dass die Finanzbehörde von einer Aufhebung des bereits als rechtswidrig erkannten Haftungsbescheides in einem Klageverfahren allein deshalb absehen müsse, weil sonst der Eintritt der Festsetzungsverjährung drohe. Aus verfahrensökonomischen Gründen könne ein solches Ergebnis indes nicht gewollt sein. Darüber hinaus seien die Folgen einer behördlichen Kassation mit den Folgen einer gerichtlichen Aufhebung des Bescheides durchaus vergleichbar.

Der Kläger schließt sich im Wesentlichen den Ausführungen des FG an. Gründe, den Anwendungsbereich der streitbefangenen Vorschrift im Wege einer historischen bzw. teleologischen Auslegung auf den Streitfall auszudehnen, seien nicht erkennbar. Es fehle bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.

II.

Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung durch das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Entgegen der Rechtsauffassung des FG ist der Haftungsbescheid II noch vor Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen.

1. Nach § 191 Abs. 3 Satz 2 AO 1977 beträgt die Festsetzungsfrist für Haftungsbescheide grundsätzlich vier Jahre, beginnend mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Haftung knüpft (§ 191 Abs. 3 Satz 3 AO 1977). Nach den Feststellungen des FG ist der haftungsbegründende Tatbestand, auf den das FA die Inanspruchnahme des Klägers gestützt hat, im Jahre 1995 durch Nichtentrichtung der in der am beim FA eingereichten Umsatzsteuerjahreserklärung errechneten Umsatzsteuerschuld verwirklicht worden. Danach begann die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Jahres 1995. Der vom FA inzwischen aufgehobene Haftungsbescheid I erging am und somit innerhalb der Festsetzungsfrist. Die Festsetzungsfrist wurde durch die Anfechtung des Haftungsbescheides gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 171 Abs. 3a Satz 1 AO 1977 gehemmt. Denn nach § 171 Abs. 3a Satz 1 AO 1977 läuft die Festsetzungsfrist eines mit einem Einspruch oder einer Klage angefochtenen Haftungsbescheides nicht ab, bevor über den Rechtsbehelf unanfechtbar entschieden ist.

2. Die Aufhebung des Haftungsbescheides I führt im Streitfall nicht dazu, dass der Haftungsbescheid II nicht mehr hätte ergehen dürfen. Denn im Streitfall ist der besondere Umstand zu berücksichtigen, dass das FA den ursprünglichen Haftungsbescheid aufgehoben und mit demselben Verwaltungsakt zugleich einen neuen Haftungsbescheid erlassen hat. Rücknahme und Neuerlass des Bescheides erfolgten zeitgleich, so dass von einem Ablauf der Festsetzungsfrist im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides II nicht ausgegangen werden kann. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob im Falle einer Rücknahme eines Haftungsbescheides während eines finanzgerichtlichen Verfahrens die Ablaufhemmung bereits im Zeitpunkt der Aufhebung des Verwaltungsaktes oder erst mit der übereinstimmenden Erledigungserklärung der Parteien endet. Im Streitfall ist jedenfalls davon auszugehen, dass bei Erlass des Haftungsbescheides II noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten war.

Dieses Ergebnis steht nicht in einem nach § 11 Abs. 2 FGO bedeutsamen Widerspruch zur Rechtsprechung des BFH, nach der mit der Aufhebung eines Bescheides auch seine Unanfechtbarkeit und damit der Verlust der ablaufhemmenden Wirkung unabhängig von den Gründen eintritt, die Anlass zu seiner Aufhebung waren (vgl. , BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942, und vom VI R 47/93, BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715). In dem der BFH-Entscheidung in BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942 zugrunde liegenden Fall ist ein neuer Zinsbescheid erst über zwei Monate nach Aufhebung des ursprünglichen Bescheides aufgrund der Sonderregelungen in § 239 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 174 Abs. 4 AO 1977 ergangen. Da ungeachtet der Aufhebung des Ausgangsbescheides ein neuer Zinsbescheid auch nach Wegfall der Ablaufhemmung in zulässiger Weise ergehen konnte, beruht das Urteil nicht auf den Aussagen zu den Auswirkungen der während eines schwebenden Rechtsbehelfsverfahrens erfolgten Aufhebung eines Verwaltungsaktes auf die Hemmung der Festsetzungsfrist. Auch dem mit Urteil des VI. Senats des BFH in BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715 entschiedenen Fall, das überdies zu § 171 Abs. 4, nicht zu § 171 Abs. 3a AO 1977 ergangen ist, lag eine vom Streitfall abweichende Fallgestaltung zugrunde. Auch in diesem Fall erfolgte der Erlass eines neuen Pauschalierungsbescheides (§§ 40, 40a des Einkommensteuergesetzes) erst über sechs Monate nach Aufhebung des aufgrund einer Außenprüfung ergangenen Haftungsbescheides, mit dem die pauschale Lohnsteuer erstmals geltend gemacht worden war. Der BFH urteilte, dass die aufgrund der Außenprüfung eingetretene Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist mit der Aufhebung des Haftungsbescheides geendet habe, so dass der nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangene Pauschalierungsbescheid nicht mehr hätte ergehen dürfen. Das FA hätte das für ihn nachteilige Ergebnis dadurch vermeiden können, indem es zunächst einen formell korrekten Pauschalierungsbescheid erlassen und erst dann den angefochtenen Haftungsbescheid aufgehoben und den Rechtsstreit vor dem FG in der Hauptsache für erledigt erklärt hätte.

3. Im Streitfall ist eine Entscheidung über die Frage, ob § 171 Abs. 3a Satz 3 AO 1977 auf den Fall der gerichtlichen Kassation eines Bescheides beschränkt ist, oder analog auch auf den Fall der Aufhebung des Bescheides durch die Finanzbehörde angewandt werden kann, nicht veranlasst. In diesem Zusammenhang verweist der erkennende Senat auf seine Entscheidung vom heutigen Tage in der Rechtssache VII R 77/03 (zur Veröffentlichung bestimmt).

4. Da das FG seiner Entscheidung eine von der Rechtsauffassung des erkennenden Senats abweichende Meinung zugrunde gelegt hat, war das Urteil aufzuheben. Der Senat ist jedoch an einer abschließenden Entscheidung gehindert, da das FG die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides nur unter dem Gesichtspunkt des Eintritts der Festsetzungsverjährung geprüft hat. Im zweiten Rechtsgang wird das FG nunmehr über die haftungsrechtlichen Voraussetzungen des § 69 AO 1977 zu befinden und in diesem Zusammenhang auch die Betätigung des Auswahlermessens zu überprüfen haben.

Fundstelle(n):
BStBl 2005 II Seite 323
BB 2005 S. 818 Nr. 15
BFH/NV 2005 S. 729
BFH/NV 2005 S. 729 Nr. 5
BStBl II 2005 S. 323 Nr. 9
DStRE 2005 S. 600 Nr. 10
HFR 2005 S. 507
INF 2005 S. 321 Nr. 9
StB 2005 S. 170 Nr. 5
VAAAB-44846