BAG Urteil v. - 5 AZR 692/16

Mindestlohn - Anrechenbarkeit von Prämien

Gesetze: § 1 Abs 1 MiLoG, § 1 Abs 2 S 1 MiLoG, § 3 MiLoG, § 362 Abs 1 BGB

Instanzenzug: ArbG Halle (Saale) Az: 3 Ca 1815/15 NMB Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt Az: 2 Sa 109/16 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten - soweit für die Revision von Belang - über die Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs.

2Der Kläger ist seit dem bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Kraftfahrer beschäftigt. Er arbeitete in den Monaten Januar sowie März bis September 2015 an fünf Tagen pro Woche jeweils 9,6 Stunden. Dabei fielen im Mai und August 21 Arbeitstage, im Juli 23 Arbeitstage und in den übrigen Monaten 22 Arbeitstage an. Die Beklagte zahlte dem Kläger - jeweils brutto - ein monatliches Grundgehalt von 1.605,00 Euro, eine „Immerda-Prämie“ von 95,00 Euro, eine Prämie für Ordnung und Sauberkeit von 50,00 Euro und eine „Leergutprämie“ von 155,00 Euro.

3Die „Immerda-Prämie“ erhalten Beschäftigte, die im Abrechnungsmonat durchgehend arbeitsfähig waren und nicht unentschuldigt gefehlt haben. Die Prämie für Ordnung und Sauberkeit zahlt die Beklagte, wenn das zum Transport von Frischfleisch benutzte Fahrzeug sauber gehalten wird, die „Leergutprämie“ für den korrekten Umgang mit vom Kunden zurückzugebendem Leergut.

4Mit der am beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger sich zunächst gegen eine zum erfolgte Kürzung der „Immerda-Prämie“ von 180,00 Euro brutto auf 95,00 Euro brutto gewandt. Mit Klageerweiterung vom hat er unter Berufung auf das Mindestlohngesetz Differenzvergütung für den Zeitraum Januar und März bis September 2015 verlangt und gemeint, die Beklagte habe den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht erfüllt. Die von ihr im Streitzeitraum gezahlten Prämien seien nicht mindestlohnwirksam.

5Der Kläger hat - soweit die Klage in die Revisionsinstanz gelangt ist - beantragt,

6Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die von ihr gezahlten Prämien seien im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachtes Arbeitsentgelt, die den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn miterfüllten.

7Das Arbeitsgericht hat in dem in der Revision noch anhängigen Umfang der Klage stattgegeben (Ziffer 2 Ersturteil) und die Beklagte außerdem zur Zahlung von 510,00 Euro brutto nebst Zinsen (Ziffer 1 Ersturteil) als weitere „Immerda-Prämie“ für die Monate Februar bis Juli 2015 verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - dem Kläger nur für den Monat Juli 2015 eine auf § 1 MiLoG gestützte Differenzvergütung iHv. 66,80 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Mit der vom Landesarbeitsgericht für beide Parteien zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen darüber hinausgehenden Klageantrag weiter, während die Beklagte die vollständige Klageabweisung begehrt.

Gründe

8Die Revision der Beklagten ist begründet, die Revision des Klägers unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht der Berufung der Beklagten nicht in vollem Umfang entsprochen. Die Klage ist, soweit sie in die Revisionsinstanz gelangt ist, unbegründet.

9I. Streitgegenständlich ist in der Revisionsinstanz nach den von den Parteien gestellten Anträgen (§ 557 Abs. 1 ZPO) nur der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Mindestlohn für die Monate Januar und März bis September 2015.

10Dagegen ist die Entscheidung des Arbeitsgerichts zum Streitgegenstand „Immerda-Prämie“ rechtskräftig geworden (§ 705 ZPO). Denn diesbezüglich hat die Beklagte nach Berufungsantrag und -begründung das Ersturteil nicht angegriffen. Soweit das Landesarbeitsgericht unter Missachtung des § 528 ZPO eine mangels Begründung unzulässige „Berufung“ der Beklagten angenommen hat, geht das Berufungsurteil ins Leere.

11II. Die Klage ist unbegründet.

121. Der Kläger hat nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde Anspruch auf den Mindestlohn von - im Streitzeitraum - 8,50 Euro brutto. Dieser gesetzliche Anspruch tritt eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch; wird der gesetzliche Mindestlohn unterschritten, führt § 3 MiLoG zu einem Differenzanspruch ( - Rn. 22 mwN, BAGE 155, 202, seither st. Rspr.; zuletzt - 5 AZR 317/16 - Rn. 10).

13Den zeitlichen Umfang der vom Kläger in den streitgegenständlichen Monaten tatsächlich geleisteten Arbeit hat das Landesarbeitsgericht im Tatbestand des Berufungsurteils für den Senat bindend festgestellt (§ 559 ZPO). Danach ergibt sich ein gesetzlicher Mindestlohn von 1.713,60 Euro brutto für die Monate Mai und August 2015 (jeweils 201,60 Arbeitsstunden), von 1.795,20 Euro brutto für die Monate Januar, März, April, Juni und September 2015 (jeweils 211,20 Arbeitsstunden) und von 1.876,80 Euro brutto für den Monat Juli 2015 (220,80 Arbeitsstunden).

142. Der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Mindestlohn ist mit der Zahlung von 1.905,00 Euro brutto in jedem der streitgegenständlichen Monate durch Erfüllung erloschen, § 362 Abs. 1 BGB.

15a) Der Arbeitgeber hat den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn erfüllt, wenn die für einen Kalendermonat gezahlte Bruttovergütung den Betrag erreicht, der sich aus der Multiplikation der Anzahl der in diesem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mit - im Streitzeitraum - 8,50 Euro ergibt ( - Rn. 17, BAGE 157, 356). Das ist vorliegend der Fall. Denn nicht nur das dem Kläger gezahlte Grundgehalt von 1.605,00 Euro brutto ist zur Erfüllung des Mindestlohnanspruchs geeignet, auch die ihm von der Beklagten gewährten Prämien sind mindestlohnwirksam.

16b) Weil der Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG „je Zeitstunde“ festgesetzt ist und das Gesetz den Anspruch nicht von der zeitlichen Lage der Arbeit oder den mit der Arbeitsleistung verbundenen Umständen oder Erfolgen abhängig macht, sind mindestlohnwirksam alle im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen mit Ausnahme der Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen (st. Rspr., zuletzt  - Rn. 13; - 5 AZR 621/16 - Rn. 19 mwN; zum Streitstand zwischen „Entgelttheorie“ und „Normalleistungstheorie“ im Schrifttum vgl. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 106 ff.; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 22 f., jeweils mwN). Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts gebietet die Entstehungsgeschichte des Mindestlohngesetzes kein anderes Verständnis. Der Begriff der „Normalleistung“ hat keinen Eingang in den Wortlaut des Mindestlohngesetzes gefunden (im Einzelnen  - Rn. 21, BAGE 157, 356; zust. Greiner Anm. AP MiLoG § 1 Nr. 3).

17c) Danach sind die streitgegenständlichen Prämien mindestlohnwirksam.

18aa) Mit der Zahlung der „Immerda-Prämie“ honoriert die Beklagte nicht nur die bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb, sondern die Erbringung der Arbeitsleistung. Die Prämie soll einen finanziellen Anreiz geben, auch bei (geringfügigen) gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu arbeiten und sich nicht krankschreiben zu lassen (zu einer „Anwesenheitsprämie“ vgl.  - Rn. 20; im Ergebnis ebenso Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 156).

19bb) Auch die Prämie für Ordnung und Sauberkeit ist Gegenleistung für eine Arbeitsleistung des Klägers. Sie honoriert - wie der Kläger selbst vorgebracht hat - Sauberhalten und Desinfektion des von ihm zum Transport von Frischfleisch benutzten Fahrzeugs. Diese Aufgaben sind Teil der vom Kläger zu verrichtenden Tätigkeiten.

20cc) Dasselbe gilt für die „Leergutprämie“. Sie ist Gegenleistung für die ordnungsgemäße Abwicklung des von den belieferten Kunden an den Kläger zurückzugebenden Leerguts und unterliegt daher dem umfassenden Entgeltbegriff des Mindestlohngesetzes (zu einer „Nähprämie“ vgl.  - Rn. 16).

21Dabei ist es entgegen der Auffassung des Klägers unerheblich, ob die Beklagte berechtigt ist, Differenzen aus dem Umgang mit Leergut von der Prämie „abzuziehen“. Zwar muss, um mindestlohnwirksam zu sein, die Zahlung des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben ( - Rn. 31, BAGE 155, 202). Indes ergibt sich aus dem in der Berufungsverhandlung zu Protokoll erklärten Sachvortrag des Klägers nur, dass er beim Auftreten von Differenzen die Leergutprämie nicht bzw. nicht in voller Höhe erhält. Dass er für den Streitzeitraum bezogene Prämien wegen späterer Leergutdifferenzen zurückzahlen musste oder sich die Beklagte zumindest die Rückzahlung vorbehalten hätte, hat der Kläger nicht vorgebracht.

22dd) Einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung unterliegt keine der streitgegenständlichen Prämien.

23III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2017:081117.U.5AZR692.16.0

Fundstelle(n):
BB 2018 S. 243 Nr. 5
DStR 2018 S. 930 Nr. 18
CAAAG-70672